Atze Brauner über Kino nach den Nazis: "Ich muss etwas tun für die, die tot sind"
Ein Gespräch mit dem Filmproduzenten und Schoah-Überlebenden Artur Brauner, der am 1. August 90 Jahre alt wird und direkt nach dem Krieg anfing, Filme über Nationalsozialismus zu machen.
taz: Herr Brauner, wenn es nach Ihrem Vater gegangen wäre, dann würde alle Welt Sie heute als Abi Brauner, nicht als Atze Brauner kennen.
Artur Brauner: Mit siebzehn, siebzehneinhalb Jahren war das wohl, da bin ich Ski gelaufen und habe eine Urkunde gewonnen, und da steht Artur Brauner drauf. Die hab ich immer noch, kann ich Ihnen zeigen. Nicht dass ich mich des Namens Abraham schämen würde, ohne Abraham wären wir alle nicht da, da gäbe es weder eine jüdische, eine christliche noch eine muslimische Religion. Denken Sie daran, dass Amerikas populärster Präsident Abraham Lincoln hieß.
Also heißen Sie schon immer Artur?
Nein, als ich geboren wurde, wurde mir der alte biblische Name Abraham gegeben. Nach der Schule, vor dem Technikum, habe ich mich aber Artur genannt, als ich Ski gelaufen bin, und so ist es geblieben. Aber das ist doch völlig unwichtig.
Ich habe gelesen, Sie seien nach dem Abitur mit einer Gruppe junger polnischer Zionisten in den Nahen Osten gereist, um zwei Dokumentarfilme zu drehen.
Nein, nein, das war eine Reise nach Persien, und es war eine ganz normale Gruppe. Ich hatte doch geträumt davon, Schauspieler zu werden, Tarzan zu spielen, Mädchen auf dem Arm zu tragen. Als ich gelesen habe, dass sich eine Gruppe nach Persien begeben soll, Dokumentaraufnahmen zu machen, da hab ich mich gemeldet.
Und der Zionismus hat Sie als jungen Mann nicht interessiert?
Was hat das mit dieser Reise zu tun?
Nichts, aber viele junge Leute aus jüdischen Familien in Osteuropa haben sich damals dafür begeistert.
Ja, natürlich, der Traum von Palästina. Ich weiß noch, 1923 oder 1924 fuhr mein Vater nach Palästina und hat Sand von dort mitgebracht. Das war eine heilige Reliquie. Er hat auch erklärt, wir müssten die Sümpfe austrocknen, damit die Malaria verschwinde. Wir müssten die Orangenhaine ausbauen und die Grapefruits, damit wir exportieren können, hat er immer gesagt, und da braucht man junge Leute. Ich bin nicht mehr jung genug. Aber ihr Kinder, wenn ihr größer seid, fahrt ihr für ein, zwei Jahre mal dort hin, schaut euch das an und helft dabei.
Wie war das Verhältnis damals zwischen Juden und Christen in Lodz, wo Sie geboren worden sind?
Es gab schon einen Antisemitismus, aber es gab auch ein friedliches Zusammenleben. Lodz hatte rund 750.000 Einwohner, davon waren ungefähr 400.000 Polen, 250.000 Juden und 80.000 Deutsche. Diese drei, Völker möchte ich beinahe sagen, haben Lodz zu einer Metropole gemacht, die wie Manchester auf Textilien spezialisiert war. Jüdische und deutsche Unternehmer haben die Stadt internationalisiert. Innerhalb von hundert Jahren wurde aus einem kleinen Ort die zweitgrößte polnische Stadt nach Warschau. Das Zusammenleben war geprägt von dieser Aufbauarbeit der drei Völker, aber es gab eine Randgruppe, die antisemitisch war. Wenn diese Leute betrunken waren und einen Juden sahen, der ihnen nicht gefallen hat, haben sie mit dem Messer zugestochen. Wenn Hitler nicht gekommen wäre, dann wäre Lodz noch heute eine blühende Metropole.
Als die Wehrmacht einmarschiert ist, sind Sie mit Ihrer Familie geflüchtet?
Das ist eine eigene Geschichte. Ich bereite gerade einen Film vor, "Der Chinese", der im Lodzer Getto spielt. Und zwar 1941/42, wo ein großer Teil der Bevölkerung am Leben blieb, weil sie für die Wehrmacht gearbeitet haben, Uniformen, Schuhe und andere wichtige Teile herstellten, analog zu den Juden in Ungarn. Ich habe festgestellt, dass im August 44 ein Befehl kam, auf die Arbeit der Menschen im Getto zu verzichten. Dann sind knapp 100.000 Einwohner deportiert worden. Aber weder nach Treblinka noch nach Majdanek, wie das sonst der Fall war. Das ist das Schrecklichste, was ich je gehört habe, ich träume jede Nacht davon: Von unserem Haus führt der Weg nach Radegast, auf Polnisch Radogoszcz, und ungefähr vier Kilometer von unserer Wohnung entfernt wurde ein Sammelpunkt eingerichtet. Sukzessive wurden Leute aus dem Getto ausgesondert. Dort sind sie in Lastwagen eingestiegen. Sie fuhren nach Chelmno, das ungefähr 80, 100 Kilometer von Lodz entfernt liegt. Auf dem Weg dorthin wurden sie vergast. Es gab Todeslager, aber auch Aufstände, und manche wurden gerettet, weil die SS es nicht geschafft hat, sie umzubringen. Oder weil Himmler in Auschwitz im November 44 die Tötungen aussetzen ließ. Aber von diesen Hunderttausend aus Lodz hat sich kein Mensch gerettet. Sie sind auf dem Weg nach Chelmno vergast worden, das war billig, es kostete nur das Benzin. Die Lastwagen sind angekommen, die Toten wurden ausgeladen und schon 15 Minuten später fuhren sie nach Lodz zurück, um die nächsten Opfer abzuholen. Das war gar nicht aktenkundig und ist erst vor kurzem durch deutsche Zeugen herausgekommen. Ich habe bei den Vorarbeiten für "Der Chinese" davon erfahren. Sie können sich vorstellen, was das für ein Gefühl war, als ich die Stadt besuchte: Nur vier Kilometer von unserem Haus, da war der Tod.
Zu dieser Zeit waren Sie selbst schon untergetaucht?
Das ist eine Geschichte für sich. Ich kann sie Ihnen nicht erzählen. Ein Verlag hat mit mir einen Vertrag abgeschlossen über ein Buch, und ich habe mich dazu verpflichtet, vorher keine Einzelheiten zu erzählen. Tatsache aber ist, dass ich nicht zulassen wollte, dass hier auf meiner Brust ein gelber Davidstern hängt. Ich habe gesagt, das mache ich nicht mit. Ich lasse mich nicht entwürdigen. Entweder ich schaffe das, oder ich will nicht leben. So war ich mit zwanzig, und das war richtig. Ich habe es ohne Granaten und Gewehre, mit ein bisschen Glück und Intelligenz und Courage geschafft, dass ich hier heute mit Ihnen sitze.
"Morituri", Ihr zweiter Film von 1947, schildert die Flucht aus einem KZ und das Überleben mit einer Gruppe von Flüchtlingen in einem polnischen Wald. Der Film beruht auch auf Ihren Erlebnissen?
Zum Teil.
Waren auch unter den Schauspielern von "Morituri" Überlebende?
Es waren, glaube ich, zwei Schauspieler und eine Schauspielerin, die Überlebende waren. Der Film ist zwei Jahre nach Kriegsende gedreht worden, er war absolut authentisch.
Was wollten Sie mit "Morituri" erreichen?
Ich wollte mit allen Filmen dieser Art erreichen, dass die Leute zur Besinnung kommen, dass sie sehen, was es bedeutet, wenn eine Diktatur, wenn Unmenschlichkeit regiert. Ich habe gehofft, dass es eine Besserung in der Moral, in den Gefühlen derjenigen ergibt, die so etwas sehen. Aber ich bin enttäuscht, es hat sich nichts geändert.
Was hat sich nicht geändert?
Die Mentalität ist die gleiche geblieben. Damals, vor sechzig Jahren, wollten die Leute den Film nicht sehen, das Publikum wollte nicht vor Augen haben, was geschehen ist. Das Verdrängen, das Nicht-wissen-Wollen ist geblieben. Damals gab es alte SS-Leute, die die Kinos gestürmt haben und den Film so aus den Kinos jagten, heute gehen die Leute einfach nicht hin.
Was halten Sie von dem Trend, die Nazizeit im Film nicht mehr aus der Perspektive der Opfer, sondern der deutschen Mitläufer, Täter oder gar Opfer zu betrachten? Von Filmen wie "Der Untergang"?
Wenn ein Film den Untergang des jüdischen Volkes behandelt, geht niemand hinein, wenn ein Film den Untergang von Adolf Hitler zeigt, kommen 4,6 Millionen Zuschauer. Man kann darüber streiten, ob dieser Film hätte produziert werden müssen. Es gibt Momente, die dem heutigen Publikum etwas darüber sagen, was damals geschehen ist, und es gibt Momente, die etwas heroisieren, die Hitler vermenschlichen. Das soll nicht meinem Urteil unterliegen. Der Film wurde gemacht, er wird überall auf der Welt gezeigt, er löst verschiedene Reaktionen aus.
In "Morituri" wird von den Flüchtlingen ein deutscher Soldat gefangen, ein Tribunal entschließt sich, ihn am Leben zu lassen, weil man nicht wissen könne, ob der Junge ein Verbrecher ist oder nicht.
Das ist natürlich eine - wie soll man das nennen? - eine politische Zugabe, um über diesen Soldaten eine gewisse Verbindung zu schaffen, um nicht zu sagen, alle waren Verbrecher und Mörder. Das war richtig so. Der Soldat war die Inkarnation des Menschlichen, des Verbindenden. Ich finde, dass Sie fragen sollten, welchen Erfolg ich mit den Filmen über die Schoah habe.
Betrachten Sie sie als gestellt.
Die Filme haben bisher einige hundert Millionen gesehen. "Hitlerjunge Salomon" etwa ist ein Kultfilm geworden. Der Film hätte den Oscar gewonnen, wenn die deutsche Auswahlkommission - ich kann nur lachen, Nicht-Auswahlkommission nenne ich das - nicht dagegen opponiert hätte. Wenn ich nach Amerika komme und sage, ich bin der Producer von "Hitlerjunge Salomon", dann öffnen sich alle Türen. Und ich werde bemitleidet, dass man mir den Oscar geraubt hat. Ein immens großes Publikum, auch hier in Deutschland, hat diese Filme gesehen, alle sind im Fernsehen gelaufen, einige gibt es jetzt auch auf DVD. Ich glaube, dass eine ganze Reihe von Menschen, besonders Jugendliche, die vielleicht anfällig sind für Nazipropaganda, keine Nazis mehr werden, wenn sie diese Filme gesehen haben. Das ist meine Aufgabe gewesen, und ich glaube, das ist wunderbar gelöst worden. Ich stehe gerade vor einer Unterschrift eines Vertrages mit Jad Vaschem, wo alle meine Filme, 21 bisher, auch noch in den nächsten 50 bis 100 Jahren dort gezeigt werden sollen.
Wie wichtig war es Ihnen bei diesen Filmen, auf historische Genauigkeit zu achten?
Die Filme, die ich gedreht habe, sind ja zum Teil mit Zeitzeugen oder durch Zeitzeugen realisiert worden, sodass die Wahrheit gesichert ist. Ich lasse keine Fälschungen zu bei meinen Filmen. Ich hatte einen amerikanischen Drehbuchautor für einen Film, der auch in der Schoah spielt. Sein Manuskript war voller Verfälschungen der Geschichte, der Personen, der Handlung. Ich habe es weggeschmissen. Ich habe mich mit vielen schwarzen Löchern in der Erinnerung beschäftigt, zum Beispiel in "Von Hölle zu Hölle", das vom Pogrom im polnischen Kielce im Jahr 1946 handelt. Erst jetzt wird darüber diskutiert. Babi Jar war ein weiteres schwarzes Loch.
Ihre Eltern warteten nach dem Krieg in einem Lager für "displaced persons" bei Heidenheim auf ihre Abreise nach USA. Sind sie nach Amerika gegangen?
Nein, sie bevorzugten Palästina, heutiges Israel.
Warum sind Sie in Berlin geblieben?
Ich habe mir damals gesagt: Wenn ich überlebe, dann muss ich etwas tun, für diejenigen, die tot sind. Und das sind so viele. In meiner eigenen Familie sind es 49 Personen, meine Bekannten, meine Freunde, meine Kollegen, alle, die nicht mehr da sind. Ich habe immer gesagt, wenn ich etwas Geld mobilisieren kann, dann mache ich einen solchen Film, bei dem von vornherein ein Verlust feststeht. Die Drehbücher standen immer schon parat. Mag sein, dass das eine fixe Idee war. Ich habe insgesamt 16,4 Millionen verloren bei den 21 Filmen, die ich zum Thema Nationalsozialismus produziert habe. Ich war immer der Ansicht, dass ich die Pflicht habe, wenn es sonst kein anderer mehr tut weltweit, die Opfer im Tod zu verewigen und ihnen Gesichter zu geben.
Das hätten Sie überall machen können. Warum also ausgerechnet Berlin?
Berlin liegt genau in der Mitte, um die Filme östlich von Berlin zu drehen. Und Berlin liegt trotzdem gut für den Westen, wenn man nach Los Angeles oder nach Paris muss wegen Vorproduktionen, Verleihverträgen oder Schauspielern.
Als Sie nach Berlin gekommen sind, kannten Sie kaum jemanden. Haben Sie sich an anderen Überlebenden orientiert? Welche Netzwerke gab es da?
Ich habe mich in Bezug auf die Schauspieler, Autoren und Regisseure nach Dr. Heinz Herlitz gerichtet. Er war "Halbjude", der jüngere Bruder des Firmengründers. Er hat bei der Ufa als Syndikus gearbeitet und wurde nicht denunziert, obwohl alle das wussten. Bei der Tobis oder den anderen Produktionsfirmen wäre er sicher denunziert worden. Er hat mich nach dem Krieg darüber informiert, mit wem man arbeiten darf. Das war ein wunderbarer Mensch. Vor allem durch Dr. Herlitz bin ich hier heimisch geworden. Er sagte mir, den oder die darfst du nicht nehmen. Andererseits wusste ich durch ihn: Hans Söhnker, der ist in Ordnung, ebenso wie Rudolf Platte, Helmut Käutner und einige wenige andere.
Wie haben Sie den Alltag in Berlin erlebt?
Ich habe während der ganzen sechs Jahrzehnte vielleicht acht bis zehn Schmähbriefe bekommen. Ich vermute, einige davon waren von ehemaligen Mitarbeitern. Ich habe aber in dieser Zeit um die zehntausend Autogrammkarten schreiben müssen, und ich erhalte viele Briefe von Zuschauern, viele wünschen mir Gesundheit und ein langes Leben. Das sagt vielleicht etwas zu Ihrer Frage, das ist ja ein Teil des Zusammenlebens in Berlin. Natürlich gab es damals noch alte Nazis, als ich nach Berlin kam. Ich hatte in den ersten drei Jahrzehnten Angst vor jedem mit weißem Haar, dass er vielleicht einer von den Todeskommandos war, der den Befehl zum Mord gegeben hat. Aber Gott sei Dank ist die Zeit vorbei. Heute sind die weißhaarigen Herren außerhalb jeglichen Verdachts, dass sie an Verbrechen beteiligt waren.
Interview: Ulrich Gutmair
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