Kommentar Proteste im Kaschmir: Jenseits des Fundamentalismus
Der Streit um die Unabhängigkeit Kaschmirs ist noch lange nicht beigelegt. Eine Funke genügt, um das Pulverfass Kaschmir zu entzünden.
U ngelöste Konflikte verschwinden nicht einfach so. Irgendwann flammen sie auf und reißen ganze Regionen in die Krise. Indien macht diese leidvolle Erfahrung gerade erneut in seiner nördlichen Region Kaschmir.
Dabei sah alles danach aus, als hätte sich der Separatismus im indischen Teil Kaschmirs abgekühlt. Seit einem Friedensabkommen mit Pakistan vor fünf Jahren beruhigte sich die Lage dort merklich. Seit 2005 verkehren sogar Busse zwischen Srinagar und Muzaffarabad, der Hauptstadt des pakistanischen Teils von Kaschmir. Dieses Jahr brach die Zahl der Touristen aus Indien und aller Welt alle Rekorde.
Dann ging alles ganz schnell. Eine Kontroverse über die Vergabe einiger Hektar Land an eine Hindu-Stiftung brachte vor zwei Monaten schlagartig zehntausende Menschen auf die Straßen. Bald wandelten sich die Demonstrationen zu Massenkundgebungen für die Unabhängigkeit Kaschmirs. Auf dem Höhepunkt der Proteste zogen am vergangenen Freitag hunderttausende Menschen auf das Eidgah-Feld in Srinagar, um gemeinsam für die Loslösung von Indien zu beten.
Für Indien war das ein Schlag ins Gesicht. Denn Aufnahmen von der gewaltigen friedlichen Veranstaltung zeigten, dass etliche Frauen, Kinder und Alte an der Kundgebung teilnahmen. Die offizielle Darstellung, wonach nur einige wenige Fanatiker die Unabhängigkeit Kaschmirs fordern, war somit obsolet. Deswegen durfte es auf keinen Fall zu einer Neuauflage kommen. Nun versucht Delhi mit allen Mitteln, die Proteste zu ersticken.
Dabei wäre jetzt die Zeit, endlich eine einvernehmliche Lösung in der Kaschmirfrage zu finden. Denn in Pakistan ist die Armee, die den Konflikt immer angeheizt hat, zumindest offiziell von der politischen Bühne verschwunden. Zivile Regierungen in Islamabad haben immer auf eine Einigung mit Indien hingearbeitet.
Andernfalls drohen jahrelange Unruhen mit tausenden Toten. Und selbst dann wird wieder der kleinste Anlass genügen, um das Pulverfass Kaschmir erneut zu entzünden.
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