Pamuks Roman "Das Museum der Unschuld": Seitensprung und Sühne
Für jede Sünde gibt es eine Beichte und für jede Sühne einen Weg: Orhan Pamuk erzählt in "Das Museum der Unschuld", wie ein großes Liebesunglück die Erinnerungen befeuert.
Man denkt selbstverständlich sofort an die Sensation, die ein profanes in Lindenblütentee getunktes Gebäck in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" hervorruft. Die Madeleine und das Proustsche Erlebnis, der alltägliche Gegenstand und die unwillkürliche Erinnerung sind Ingredienzen, die in Orhan Pamuks neuem Roman eine zentrale Rolle spielen. Sie führen dazu, dass ein gewisser Kemal mit einem korinthenbestückten "Kringel" plötzlich dieses Erlebnis hat, das man einen bittersüßen Zeitensprung nennen könnte. Einerseits ist der Kringel nur ein Ersatz für den Mann aus sehr gutem und noch reicherem Haus. Andererseits beschert ihm das Gebäck einen Moment der glücklichen Erinnerung und lässt die gerade unerreichbar in eine Ehe mit einem dicklichen Filmmenschen entschwundene Geliebte in ihrer ganzen Vollendung aufscheinen. Sie heißt Füsun und ist nicht nur wunderbar wie Aphrodite, sondern auch eine selbstbewusste und moderne junge Frau, die ihren Weg inmitten einer von Standes- und Ehrregeln umstellten Gesellschaft sucht.
Istanbul in den Siebzigerjahren. Das Jahrzehnt ist geprägt durch wirtschaftliche und politische Instabilität. 1980 putscht das Militär, verhängt das Kriegsrecht und verbietet alle politischen Parteien. Das alles inklusive des Terrors rechter und linker Extremisten taucht in Orhan Pamuks "Museum der Unschuld" allerdings nur am Rande auf. Anders als etwa in dem Roman "Schnee", in dem Pamuk auch eine Liebesgeschichte ins Zentrum stellt, aus der ostanatolischen Kleinstadt Kas aber einen Schauplatz all der politischen, ethnischen und religiösen Konflikte macht, die es in der Türkei nun mal gibt, haftet Pamuk dieses mal wie ein Schatten an den Stadtteilen Istanbuls und an Kemal. Er windet sich ganz in die Seelenwinkel des 30-Jährigen, der eigentlich der Verlobung mit der schönen und ebenfalls aus den oberen Gesellschaftsschichten Istanbuls stammenden Sibel entgegen sieht, plötzlich aber nur noch eines im Sinn hat: Füsun.
Sie ist entfernt verwandt und 18 Jahre alt. Vor allem aber lässt sie sich ganz selbstverständlich mit Kemal ein. Fortan geht es nur noch um die Liebe an sich, die Lust der Leiber, den Schmerz der Seele und dieses quälende Gefühl inmitten der innigsten Umarmung, schon Sekunden später könnten die Körper sich wie Fremde anfühlen. Der Sohn eines reichen Unternehmers, der sich nebenbei in das Unternehmen des Vaters einarbeitet, trifft sich täglich mit der Geliebten in einem ausrangierten Familienapartment, als sei da nicht dieses ungeschriebene Gesetz, demzufolge türkische Mädchen vor der Ehe auf keinen Fall ihre Jungfräulichkeit aufs Spiel setzen dürfen. Und Füsun kommt ins Apartment, angeblich um Mathe für die Aufnahmeprüfung an der Uni zu büffeln. In Wirklichkeit aber hat auch sie sich unsterblich verliebt.
Wo ist das Problem, könnte man fragen. Dann, lieber Kemal, heirate doch einfach Füsun und vergiss die Verlobte. Pamuk allerdings, der nicht nur die Geschichte einer großen Liebe in der Türkei, sondern auch einen großen Roman über das Erinnern schreibt, braucht einen Ich-Erzähler, der die Qualen einer unglücklichen Liebe erträgt und dabei zu einem Museumsführer wird, der "Erinnerung" studiert und den Leser nun an all den Ausstellungsstücken vorbei führt, die er in der Zeit der Glücksabstinenz als Erinnerungsbeschleuniger sammelte. Das geht so: Zuerst schraubt die Geschichte sich immer tiefer in die Schichten der Lust, die Kemal mit einer sinnlichen Füsun erlebt, die wohl hofft, Kemal entscheide sich für sie. Er verlobt sich dann aber doch mit Sibel, und es sieht so aus, als wolle er Füsun künftig nur als Geliebte. Sie trennt sich genauso bedingungslos von ihm, wie sie sich ihm zuvor hingab.
Pamuk erzählt das zum Teil ausufernd, immer aber ironisch distanziert und als sei die Doppelbödigkeit rigider Moralvorstellungen in islamischen Gesellschaften eine so normale Erscheinung wie der Straßenverkehr. Je strenger das religiöse und familiäre Regelwerk, desto raffinierter gebaut sind die Etagen der Doppelmoral. Sibel zum Beispiel wohnt schon vor der Hochzeit mit Kemal in einer Villa ihrer Eltern und gilt im Prinzip als entehrt. Da sie aber von Kemal betrogen wird, ist man nicht so streng, und sie darf mit Kemals bestem Freund glücklich werden. Oder Füsun, die zwar nicht für alle sichtbar entehrt wurde, trotzdem aber als schwer vermittelbar gilt. Sie lebt in einer Als-ob-Ehe, ihre Eltern erlauben aber trotzdem, dass der "reiche Onkel" Kemal über Jahre hinweg die Abende bei ihnen verbringt, um Abbitte zu leisten und um Füsun zu werben, als ginge die Geschichte einer großen Liebe jetzt erst richtig los.
Offensichtlich funktioniert das in der Türkei der Siebziger ähnlich wie in katholischen Haushalten. Für jede Sünde gibt es eine Beichte und für jede Sühne einen Weg. Während acht qualvoller Jahre der Wiedergutmachung nimmt Kemal wie ein Eunuch am Familienleben Füsuns teil und sammelt tausende von Erinnerungsstücken, angefangen von einer Kartoffelreibe, die in Füsuns Hand weilte, bis hin zu 4.213 Zigarettenkippen, die zwischen ihren Lippen ruhten. Pamuk führt Kemal in die Regionen der Lächerlichkeit, zeigt aber auch, dass bedingungslos Liebende nie lächerlich sein können, da ihre Unbedingtheit sie wie eine Aura umhüllt.
Das gilt auch, obwohl man sich fragt, ob Kemal nicht doch ein etwas derangierter Reliquienfetischist ist. Pamuk ist immer ein derart brillanter Erzähler, dass er die scheinbar lächerliche Obsession als Teil eines neuen Leben Kemals aufscheinen lässt, der zunehmend Geschmack am Leben der einfachen Menschen im Viertel Füsuns findet und zunehmend Verachtung für die gehobenen Society übrig hat. Aus Kemal wird ein neuer Mensch, der im letzten Teil des Romans die Museen Europas bereist, um nach dem Vorbild für ein Museum der bedingungslosen Liebe zu suchen, das er in Istanbul für Füsun einrichten will. Am Ende hat Pamuk die auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Schichten der Türkei in einer Figur vereint, auch wenn Kemal den Eindruck eines manischen bayerischen Sammlers hinterlässt, der in Hamburg eine Gedenkstätte für die Almwirtschaft einrichten will.
Wahrscheinlich braucht die Türkei aber solche Männer. Und sie braucht einen Erzähler wie Orhan Pamuk - aber den brauchen ja längst Leser auf der ganzen Welt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn