Tagung zur Zukunft der Bundesrepublik: Die erschöpfte Republik
Die Deutschland AG ist passé, der Sozialstaat ermattet, den Politikern sind die Hände gebunden: ernüchternden Befunde einer Tagung von Soziologen, Historikern und Genderforschern in Hamburg.
1966 schrieb Karl Jaspers die Philippika "Wohin treibt die Bundesrepublik?". Es war eine Streitschrift gegen Notstandsgesetze, eine Warnung vor der Wiederkehr des Nazismus, Attacke gegen eine leere, bloß formale Demokratie. Jaspers Schrift kann man heute nur noch als zeithistorisches Dokument lesen. Der dramatische Ton, die alarmistische Diagnose waren charakteristisch für die Bonner Republik, die sich immer wieder vergegenwärtigen musste, wie weit sie von 1933 entfernt war. Das ist 2008 weit weg. Heute fragt niemand mehr bang, wie nah uns die NS-Zeit ist. Dafür macht man sich, wie Dan Diner in Hamburg, skeptische Gedanken um die Zukunft der Erinnerung an den Holocaust. Angestaubt wirkt auch die Diskursanordnung bei Jaspers: hier der Geist in Form des Großintellektuellen, dort die Macht in Form der Politik. Heute versieht man diese Frontlinie unwillkürlich mit zwei Fragezeichen. Der eingreifende (früher selbstverständlich linke) Intellektuelle als Großraumdeuter ist ein Auslaufmodell. Und ob die Politiker die richtigen Adressaten sind, wenn man die Macht meint, ist auch fraglich.
Trotzdem wählte das Hamburger Institut für Sozialforschung unverdrossen Jaspers Titel, um 60 Jahre Bundesrepublik zu analysieren. "Die Metapher des Treibens passt zur aktuellen Lage", so der Soziologe Heinz Bude. In der Außen- und Sicherheitspolitik fehle der Kompass des nationalen Interesses, um den rechten Kurs zu halten. Vom (neoliberalen) Leipziger Programm der CDU und der Agenda 2010 ist, laut Bude, nicht viel übrig geblieben. Krisensymptome also überall. Die Systeme sind nicht mehr beherrschbar, Alternativen nicht in Sicht. Der Sozialstaat ist eine Art Wucherung, die nicht reformierbar ist. Dies ist die Grundmelodie konservativer Staatskritik schon seit Jahrzehnten. Kein Wunder, dass diese immobile Republik die Figur des eher konservativen "Putschisten", so Wolfgang Schroeder, hervorbringt. Die Galerie reicht von Roman Herzog, der sich einen Ruck wünschte, über Kanzler Schröder, der der Republik die Agenda 2010 verordnete, bis zu Arnulf Baring, der Barrikaden bauen wollte, allerdings nur im Feuilleton. Ist die Bundesrepublik zu einem komplett starren System geworden? Oder ist das nur eine Fantasie unruhiger Intellektueller, die nervös auf der Suche nach Neuem sind?
Der Soziologe Wolfgang Streeck diagnostizierte das endgültige Aus der Deutschland AG. Die kollektiven altbundesrepublikanischen Strukturen lösen sich auf. Unternehmerverbände und Gewerkschaften sind auf dem absteigenden Ast, der Flächentarifvertrag ist längst löcherig, die enge nationale Kapitalverflechtung Geschichte. Die Sozialpolitik ist, so Streeck, im Stadium der "Erschöpfung" angelangt, weil sie nur noch über Schuldenberge finanzierbar ist, die die Politik schließlich handlungsunfähig machen. 1970 waren 66 Prozent des Staatshaushalts durch Verteidigung, Renten, Schuldendienst und Soziales gebunden, 2005 81 Prozent. Das Modell Deutschland, so die Bilanz, ist nicht mit einem Knall untergegangen, es ist an sich selbst erstickt.
Allerdings folgt dieser Befund auffällig der Dramaturgie einer Untergangserzählung, in der nur die Verluste summiert werden. Verlaufen solche Prozesse wirklich linear und nicht doch zyklisch? Die unvermutete Renaissance von Keynes und der angesichts des Finanzcrashs laute Ruf nach mehr Staat lassen vermuten, dass kollektive Ordnungsstrukturen ein nachwachsender Rohstoff sind.
In Hamburg ging es zudem um Geschichtspolitik und Geschlechterverhältnisse, um Ökonomie und Einwanderung. Der Soziologe Michael Bommes zeigte, dass die deutsche Migrationspolitik auffälligen Selbsttäuschungen unterliegt. In der alten Bundesrepublik weigerten sich viele Konservative standhaft anzuerkennen, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland war. Damals kamen Millionen Migranten ins Land, und die Integration klappte recht passabel. Seit Deutschland unter Rot-Grün endlich akzeptiert hat, dass es ein Einwanderungsland ist, ist die Einwanderung fast zum Erliegen gekommen - und die Integration stockt.
Mal flackerten depressive Stimmungsbilder auf, mal wurden, etwa von Karin Gottschall im Genderbereich, offensiv die Chancen von Gleichheitsforderungen ausgelotet. Das Gesamtbild der Republik, das die Hamburger Tagung entwarf, blieb unscharf.
Zu ahnen aber ist, wie die Diskursfronten 2009 verlaufen werden, wenn 60 Jahre Bundesrepublik gefeiert werden. Manche sozialdemokratischen Zeithistoriker werden noch mal die Ankunft im Westen und die geglückte Demokratie hochleben lassen. Den Part des Kritikers der erstarrten Republik, die Rolle des Mahners und Warners, werden eher rechte "Putschisten" spielen. Kaum vorstellbar, dass sich Jaspers Leser dies 1966 hätten träumen lassen.
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