Astrid Proll erzählt von Dorothea Ridder: Im toten Trakt
Astrid Proll lernt Dorothea Ridder vor ihrer RAF-Zeit kennen. Später wird sie in die Zelle kommen, in der zuvor Dorothea Ridder in totaler Isolationshaft untergebracht worden war.
Astrid Proll: Fotografin, Bildredakteurin, Kfz-Mechanikerin, 1947 in Kassel geboren. Kam 1968 nach Schul- und Internatsodyssee in Westberlin an und begann beim Lette-Verein eine Ausbildung zur Fotografin. Durch ihren Bruder Thorwald Proll lernt sie Andreas Baader kennen und später, durch Besuche bei ihrem inhaftierten Bruder, auch Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die als Journalistin über den Kaufhausbrandprozess berichtete.
Als die Kaufhausbrandstifter nach einjähriger U-Haft zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, bis zur Entscheidung der Revision aber frei gelassen wurden, brach Astrid ihre Ausbildung ab und beteiligte sich in Frankfurt an deren Heimkampagne (gegen die zuchthausartige Verwahrung Jugendlicher in geschlossenen Erziehungsheimen). Nach Ablehnung der Revision ging sie, obgleich nicht bedroht, mit Baader und Ensslin auf die Flucht, nach Frankreich und Italien. Rückkehr Anfang 1970. Die per Haftbefehl Gesuchten finden bei Ulrike Meinhof Aufnahme und konzipieren auf Anregung von Horst Mahler eine militante Untergrundgruppe, die spätere RAF. Astrid bewegt sich im engsten Zirkel. Sie lernt Dorothea Ridder kennen. Nach der Verhaftung Baaders beteiligt sie sich neben Ulrike Meinhof u. a. an seiner Befreiung und fährt anschließend mit der etwa 20-köpfigen Gruppe nach Jordanien in ein militärisches Ausbildungslager der al-Fatah. Nach der Rückkehr lebte sie als RAF-Mitglied im Untergrund in Stuttgart, Hamburg und Frankfurt, dort wurde sie bei einer Observation durch Geheimdienstbeamte im Februar 1971 beinahe festgenommen, konnte aber zusammen mit Manfred Grashof flüchten. Die Beamten behaupteten, sie und Grashof hätten sich die Flucht "freigeschossen", dadurch war der Tatvorwurf eines doppelten Mordversuches geschaffen. Im Mai 1971 wurde sie verhaftet und unter strengster Behandlung als erstes RAF-Mitglied in den "toten Trakt" der JVA Köln gebracht zur Totalisolation.
Als erste Untersuchungsgefangene hatte dort kurz vorher noch Dorothea Ridder eingesessen. Astrid wurde für 119 Tage total isoliert, bis man ihre Zelle und den "toten Trakt" für die verhaftete Ulrike Meinhof benötigte (die dort neun Monate totalisoliert wurde, ihre Briefe über die Folgen der sensorischen Deprivation sind legendär). Astrid wurde dann zu Prozessbeginn in die JVA Preungesheim nach Frankfurt am Mai verlegt. Durch die Isolationshaft physisch und psychisch zerrüttet, wurde sie Anfang 1974 wegen Verhandlungsunfähigkeit vorübergehend aus der Haft entlassen und entzog sich, angesichts der Schwere der zu erwartenden Strafe, erneuter Inhaftierung durch Flucht nach England.
Dort heiratete sie einen Engländer, lebte unter seinem Namen in London, machte eine Ausbildung zur Kfz-Mechanikerin, einen Schweißer-Lehrgang und arbeitete dann in einem Sozialprojekt für schwarze Jugendliche, in einer Kfz-Werkstatt. Im September 1978 erneute Festnahme in London und Inhaftierung im Brixton-Gefängnis. Dort besucht sie Dorothea Ridder, die sich hinfort freundschaftlich um sie kümmert. Nach fast einjähriger Haft Auslieferung an Deutschland, Überführung in die JVA Preungesheim. Obwohl bekannte Frauen, u. a. die Gefängnisdirektorin Dr. Einsele, die Filmemacherin von Trotta, die Theologin Sölle und Ranke-Heinemann, eine "Sozialbürgschaft" für Astrid übernahmen, wurde sie nicht aus der Haft entlassen. Sie kam dann aber gleich zu Prozessbeginn frei. Ende Februar 1980 wurde sie wegen Raubüberfall und Urkundenfälschung zu fünfeinhalb Jahren unter Anrechnung der U-Haft verurteilt, der Rest der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Anklage wegen doppelten Mordversuches musste fallen gelassen werden. Die gründliche Richterin Dierks verlangte Aufklärung und der liberale Innenminister Baum gab ein Geheimdienstprotokoll frei und erteilte Aussagegenehmigung. Es erwies sich, dass die damals in den Medien verbreitete Darstellung vom "rücksichtslosen Schusswaffengebrauch" eine gezielte Lüge der Fahnder war (die der Gewaltspirale eine weitere Windung hinzufügte) und dass die Wahrheit jahrelang unter Verschluss gehalten worden war.
Astrid studierte ab 1982 Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Sie arbeitet seither als Fotografin und Bildredakteurin in Deutschland und England sowie als Lehrbeauftragte an der Universität der Künste Berlin und dem Londoner Royal College of Art. Bei Steidl Göttingen (1998) und im Aufbau-Verlag Berlin (2004) erschien ihr Bildband "Hans und Grete. Bilder der RAF 1967-1977".
Als meine Freundin Elisabeth und ich Anfang November zurückkamen aus Frankreich und Dorothea besuchten, trafen wir sie mit einer Genickstütze an. Sie wirkte majestätisch und streng, wie Ernst von Strohheim als Festungskommandant in der "Großen Illusion". Am Vortag hatte sie einen epileptischen Anfall und war in der Küche gestürzt. Der Verdacht eines Wirbelbruchs hat sich dann aber zum Glück später doch nicht bestätigt. Trotz des Schocks saß sie lange mit uns am Tisch, lachte und erzählte, dass sie seit einiger Zeit wieder längere Sachen lesen und behalten kann. Auf ihrem Nachttisch lag "Hamlet" in der Übersetzung von Erich Fried.
Astrid Proll erzählt bei der Erwähnung von Dorotheas Unfall ein Erlebnis, das sie mit ihr hatte:
Vor einer Weile fuhr ich mit ihr zur Reinigung, und sie wollte dann gerne noch zu Woolworth, etwas Unterwäsche kaufen, marschierte da so durch, zwinkerte mich noch an, und plötzlich sackt sie ganz sanft irgendwie zusammen. Dann kam Gott sei Dank - ich bin so unbeholfen - gleich eine Frau, eine Krankenschwester zufällig. Die hat sich ganz liebevoll gekümmert und die Leute dort auch. Als sie eine ganze Weile da lag und nicht wach wurde, haben sie die Ambulanz gerufen, normalerweise wird sie ja gleich wieder wach. Ich wusste das ja nicht, dass sie den Krankentransport selbst bezahlen muss, weil sie nur für den stationären Aufenthalt versichert ist. Ich habe sie dann abgeholt in der Notaufnahme und wieder nach Hause gefahren. Also das passiert ihr ab und zu, dass sie diese Anfälle hat. Und das ist natürlich ein Risiko, dass sie unglücklich stürzt. Aber meistens geht es wohl weniger dramatisch vor sich, zum Glück.
Auf unsere Frage, wann sie Dorothea eigentlich kennengelernt hat, erzählt sie:
"Ich habe Dorothea in der Vor-RAF-Zeit kennengelernt, und zwar über Marianne Herzog. Sie war eine Freundin von Marianne Herzog. Mit Marianne Herzog war ich liiert, sie war ungeheuer schön, sehr attraktiv. Sie war Hürdenläuferin und hatte tolle Waden! Die Männer drehten sich ständig nach ihr um, sie musste sich die Haare deshalb abschneiden. Aber sie war leider sehr rechthaberisch. An mir hat sie immer kritisiert, ich wäre bürgerlich, Mittelstand. Stimmt, bin ich ja. Es ist eben einfach so. Proleten waren für sie einfach die besseren Menschen. Jedenfalls, damals kam Dorothea ab und zu rüber zu mir und hat sich ein bisschen um mich gekümmert. Ich hatte beziehungsweise habe Hepatitis C, die hatten wir uns eingefangen auf dem großen Fest in Frankfurt, nachdem mein Bruder und die anderen freigekommen waren. Wir haben blöderweise so eine Opiumtinktur gedrückt, zweimal nur haben wir gedrückt, und dann das! Also jedenfalls, Dorothea war ja eine Medizinstudentin und konnte mir helfen. Sie war damals bereits eine gestandene Frau.
Später, das war schon nach der Baader-Befreiung, ich erinnere mich noch genau, da hat sie eines Tages den Satz gesagt: Irgendwann werdet ihr alle mal im Knast sein oder tot sein. Solche Gedanken wurden ja ausgeblendet, und es war das erste Mal, dass ich das wirklich wahrgenommen habe. Es hatte etwas ungeheuer Trauriges. Gut, also dann war ich ja weg, on the road, und später, nach der Verhaftung, war ich im Knast in Köln. Dorothea ist auch irgendwann verhaftet worden und war dann auch dort, ich nehme an, zu Vernehmungszwecken - deshalb sind viele Leute nach Köln gekommen, weil da die Sicherungsgruppe Bonn war. Ossendorf war ein riesiger neuer Knast. Gut. Jedenfalls, ich habe Dorothea dort nie gesehen. Alles, was ich wahrscheinlich von ihr hörte, kam über diese Mehrfachverteidigung. Und für diese Anwälte, ich weiß nicht, Eschen oder wer kam, für die war das auch sehr beschwerlich, denn sie mussten aus Berlin anreisen und ließen sich einen nach dem anderen vorführen zum Gespräch. Dadurch habe ich dann auch von ihr gehört."
(Am 29. 12. 1971 schreibt der Leiter der JVA Köln-Ossendorf an den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe betreffs der Untersuchungsgefangenen Dorothea Ridder: "Die anliegende Hausstrafenanzeige übersende ich gemäß § 119 StPO in Verbindung mit der Nr. 2, 67 UVollzO, mit der Bitte, gegen die Untersuchungsgefangene Dorothea Ridder als Hausstrafe den einmaligen Ausschluss von der Beschaffung von Zusatznahrungs- und Genussmitteln zu verhängen. Begründung: Die Gefangene hat am 27. 12. vor der Freistunde versucht, mit der ebenfalls hier einsitzenden Gefangenen Astrid Proll Verbindung aufzunehmen. Sie weigerte sich, den Flur zu verlassen, bevor sie nicht die Mitgefangene Proll gesehen hätte. Sie musste schließlich von einem männlichen Beamten vom Flur entfernt werden. Am 28. 12. 71 hat sie sich sogar geweigert, am Spaziergang teilzunehmen, weil ihr nicht gestattet worden ist, durch die Tür die Gefangene Proll zu begrüßen. (Bücker) Ltd. Regierungsdirektor).
Sie war im "toten Trakt", das war ein leerstehender, also unbelegter Flügel. Sie war die erste dort - ich war anfangs bei den Frauen in einer Einzelzelle isoliert, aber eben noch nicht totalisoliert. Seltsamerweise hat sie unter dem "toten Trakt" überhaupt nicht gelitten, sagt sie. Sie hat ihre Medizinbücher bekommen und fürs Examen gelernt. Das war ihre Perspektive. Sie wusste, sie würde nicht lange sitzen müssen, und nach vier Monaten oder so wurde sie dann auch entlassen. Nach ihr kam ich dann in diese Zelle und habe vollkommen andere Erfahrungen gemacht! Ich hatte eine zweifache Mordanklage, das Ende war offen, und ich habe die volle Auswirkung dieser totalen Isolation von menschlichen Geräuschen und allen gewohnten Sinneseindrücken am eigenen Leib erfahren.
Also dieser Punkt ist mir sehr wichtig, denn der "tote Trakt" ist heute überhaupt der einzige Beweis für diese heftigen Haftbedingungen, die wir gehabt haben. Und für die ich sozusagen ein noch lebender Beweis bin. Alles andere wird ja heute kleingeschrieben, Stammheim war ja angeblich nur noch ein Erdbeeressen und Champagnertrinken. Darüber müssen wir ja nicht reden. Der "tote Trakt" ist eine geschichtliche Tatsache, ich war dort, ich kann sie bezeugen, mich hat er traumatisiert. Ich bin den ganzen Tag hin und her gerannt, es hat mich verrückt gemacht.
Und das verbindet mich auch heute noch mit Ulrike Meinhof, die Erfahrung im "toten Trakt". Ich habe zu Hause ein Bild von ihr hängen. Ich halte sie hoch, weil sie etwas erlebt hat, was ich auch erlebt habe. Sie kam damals ja nach Köln-Ossendorf. Ich wurde in einer Zelle in der Männerpsychiatrie isoliert, und sie kam in meine Zelle. Sie hat sehr gut beschrieben, was da mit einem passiert, das ist ja bekannt. Sie war, glaub ich, fast neun Monate im "toten Trakt" und wurde dann auch in die Männerpsychiatrie verlegt und in einer Einzelzelle isoliert. Übrigens war das die Zelle, in der auch Bartsch saß - sie hatte ja 1968 über seinen Prozess berichtet. (Jürgen Bartsch war ein psychisch zum Krüppel gemachter homosexuell orientierter Kindermörder. 1946 geboren, 1976 gestorben, während einer Kastrationsoperation. Anm. G. G.) Also ich vermute mal, das war vielleicht auch kein Zufall, dass sie in diese Zelle kam.
Ulrike ist mir von allen eigentlich die Wertvollste heute. Sie war eine sehr gute Journalistin, und sie hatte eine starke Disziplin. Man musste sich mit ihren Thesen und Themen auseinandersetzen. Kennengelernt hatte ich sie damals in Frankfurt, sie hat ja über den Kaufhausbrandprozess berichtet und hatte da Kontakt und später, als mein Bruder und die anderen frei waren und sich ganz massiv in dieser Heimkampagne engagiert haben, da kam sie auch nach Frankfurt ab und zu, sie hat sich als Journalistin in dieser Zeit mit den Zuständen in den Mädchenerziehungsheimen beschäftigt.
Als der Revision dann nicht stattgegeben wurde und alle entsetzt waren, jetzt ins Zuchthaus, NEIN! Als klar war, dass wir abhauen, da wurde natürlich ein Nachfolger für die Kampagne gesucht, man wollte die Jugendlichen ja nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, und da sollte ich das dann mit Ulrike regeln, dass sie das übernimmt. Ich bin damals mit ihr zur Pressekonferenz gefahren, in dieses schreckliche Mädchenerziehungsheim bei Fulda. (Ein ehemaliges Kloster, Arbeitshaus und KZ, wurde nach dem Krieg Fürsorgeerziehungsheim, berüchtigt, Personal und Erziehungsstil teils aus der Nazizeit bruchlos übernommen. Auf Grund der Presse- und Heimkampagne wurde es dann geschlossen. Heute zu besichtigen als Gedenkstätte Breitenau, Guxhagen. Anm. G. G.) Ich habe sie gefragt, aber sie hat natürlich abgelehnt, sie war vollauf beschäftigt als Journalistin.
Gut, zurück. Ich war damals von 71 bis 74 in Haft, vier Jahre. Und ich war vollkommen fertigt, so dass sie mich aus dem Knast in Preungesheim halbtot entlassen mussten, vorübergehend, aufgrund eines ärztlichen Gutachtens. Da habe ich mich, sozusagen mit meinen letzten Kräften, nach England abgesetzt, denn ich wollte auf keinen Fall wieder rein. Und später habe ich aber doch noch mal gesessen, circa ein Jahr in London, in der Auslieferungshaft. 79 haben sie mich ausgeliefert.
Ich kam wieder nach Frankfurt-Preungesheim, bin dann aber gleich am ersten Prozesstag freigelassen worden, im Herbst 79. Da gibt es schöne Bilder, auch von Dorothea und mir, sie wurden am Abend meiner Freilassung gemacht auf einer Party in der Wohnung von K. D. Wolf. (SDS-Vorsitzender u. Gründer des Verlages Roter, später Stroemfeld/Roter Stern, 1. Adresse f. Historisch-kritische Editionen. Anm. G. G.) Also ich hatte Glück, auch dass ich mich aus der Geschichte so rausrappeln konnte in England, Leute gefunden habe, die mir geholfen haben. Als ich dort in Haft war, haben sich alle möglichen Leute bei mir gemeldet. Und eben Dorothea auch. Es wusste ja keiner, wo ich war.
Die einzige Deutsche, die ich dort kannte, war meine Freundin Karin Monte, sie hat mich täglich im Knast besucht. Die Verhaftung war natürlich in allen Medien, es war viel los, es gab Unterstützergruppen. Hauptsächlich waren es Frauen, die sich gekümmert haben, protestiert haben, Schilder aufgestellt. Und es haben mich Leute aus Deutschland besucht, auch Marianne Herzog war da, und andere, die es eben alles wieder besser wussten. Dorothea war da, das war sehr schön. Sie war aber nie eine Besserwisserin. Sie war zwar ein harter Verhandlungspartner, und sie war immer eine, die gleich geguckt hat, na, was ist, wie geht es dir, und komm. Sie hat bei Erich Fried gewohnt, hatte dann auch viel mit ihm zu tun, später. Fried hat mir ja auch sehr geholfen, hat Publicity gemacht für mich in England, denn es dauerte einige Zeit, bis denen klar war, dass ich nichts mehr gemacht hatte, keinerlei Kontakte hatte, nichts, dass sie mich am besten in England lassen könnten. Er hat seine Autorität eingesetzt.
Fried war ein toller Mensch. Ich habe ihn in einer Situation kennengelernt, wo ich dringend Hilfe brauchte. Und ich habe sie bekommen. Er hat mir alles zu Füßen gelegt, hat mir sein Geld angeboten. Der war so was von großzügig. Er hat ja sehr stark auf Frauen reagiert (sie lacht), aber zwischen uns war die Sache klar. Er wusste, ich mag nur Frauen, also er war nie sexuell aufdringlich oder so. Nein, er war einfach nur großzügig. Diese ganze "Friedlandschaft" war ja ungeheuer libidinös, länderübergreifend. Das war normal unter uns allen. Die RAF war ja auch ein Geflecht aus Freundschaften und Liebschaften. Jedenfalls, ich wurde dann doch ausgeliefert, das war ein kompliziertes Verfahren. Ich weiß nicht mehr, ob Dorothea mich auch im Knast in Frankfurt besucht hat, am Tag meines Prozesses jedenfalls - und sie war schon Ärztin, hat gearbeitet - und saß trotzdem im Zuschauerraum. Ich wurde ja dann gleich an diesem ersten Prozesstag entlassen, überraschenderweise, musste nicht mehr in der Haft sein.
Das war ein großes Signal dafür, dass die Sache ein Ende findet, ein gutes Ende, und so war es dann ja auch. Aber durch den Prozess, auch wenn er nur ein paar Monate dauerte, kam dann natürlich alles wieder hoch, ich war ja wahnsinnig traumatisiert durch diese Haft. In London habe ich mich langsam ein bisschen erholt, konnte bestimmte Sachen machen. Es war eine gute Zeit für mich, denn ich kam mitten in die Frauenbewegung rein und jede wollte ja damals lesbisch werden, gut, aber ich war natürlich in jeder Hinsicht empfindlich. Man merkte, dass mit mir was nicht stimmt. Von der RAF wusste niemand etwas von denen, die mir näherstanden, aber Genaueres wollte man auch gar nicht wissen. Es war o.k. Nach dem Prozess wäre ich gerne zurückgegangen nach England, aber es ging nicht, ich hatte für zehn Jahre Einreiseverbot, denn ich war ja illegal eingereist, und dann auch noch als Terroristin.
Ich wollte dann nach Berlin zur DFFB (Deutsche Film- u. Fernsehakademie), aber da haben sie mich nicht genommen, später bin ich dann nach Hamburg gegangen zur HfBK, aber erst mal war ich noch in Frankfurt, jedenfalls, mit Dorothea hatte ich immer Kontakt. Weihnachten kam sie nach Frankfurt, hat eine Ente gebraten, wir haben oft zusammen gekocht, haben "Mensch ärgere dich nicht" gespielt, wir waren ganz häuslich und familiär. Ich war damals 32 und Dorothea ist genau fünf Jahre älter, wir haben beide am 29. Mai Geburtstag und haben den auch oft gemeinsam gefeiert.
Ich kam dann auch viel nach Berlin, auch von Hamburg aus, als ich mich dort ein bisschen eingelebt hatte. Sie hat mir wahnsinnig geholfen. Ich habe doch immer diese Angstzustände gehabt, also entweder akut, dass ich dachte, jetzt bekomme ich einen Herzanfall, es geht zu Ende mit mir, ich sterbe, oder dass ich furchtbare Psycho-Erlebnisse hatte, na egal, ich will hier nicht herumjammern und klagen. Ich hatte auch eine gute Analytikerin in Hamburg, und ich habe damals Dorothea viel besucht, sie hat mir wahnsinnig gutgetan.
Wir sind in Zehlendorf spazieren gegangen und ich konnte mit ihr über alles reden. Sie war immer ruhig und geduldig. Mit meinen Angst- und Panikanfällen habe ich die meisten Leute ja auch irgendwie in Angst und Panik versetzt, und das hat dann meinen Zustand wiederum verschärft. Dorothea war da ganz anders. Sie hatte keine Angst. Nie! Auf einen ängstlichen Menschen wie mich wirkt das ungeheuer beruhigend. Und in meinem Fall ist es ja auch noch so, dass ich ihr die Umstände gar nicht erklären musste, sie hatte ja Ähnliches erlebt wie ich, war auch dort, auch wenn es anders auf sie gewirkt hat. Aber sie war nie sentimental, das war angenehm.
Auch als Ärztin war sie zwar präsent, aber das stand nie im Vordergrund. Und es ging ihr anscheinend auch nicht auf die Nerven. Ich war ja schwierig mit diesen Angstanfällen, ich konnte nicht aufstehen, konnte nicht auf die Straße gehen, helle Panik mitten auf der Straße. Sie war unerschütterlich, hat mich so angeguckt und gesagt: Jetzt gehen wir mal weiter! Das haben wir über Jahre exerziert. Ich habe das auch immer körperlich gespürt. Luft … Jedenfalls war sie ruhig, stand da wie eine Burg. Das hat mir ein wahnsinniges Zutrauen gegeben. Ich wusste, ihre Ruhe war ja nicht die einer Unbeteiligten, oder Teilnahmslosen, im Gegenteil, Dorothea hat sich immer selbst verstrickt, sie hatte eine große Fähigkeit zur Empathie, deshalb war sie auch als Ärztin ein solches Zentrum. Sie wollte professionell helfen, und sie wollte Leute retten.
Dorothea hat schon immer gesagt - auch in Bezug auf die RAF -, dass sie es nicht erträgt, dass die Leute sterben. Und als es dann genau so kam, hat sie sehr unter der Tragödie gelitten. Ich habe ja von Ulrikes Tod es in England gehört, und das war ein wahnsinniger Schock, auch dann im Oktober 77 (nach der sogenannten Todesnacht von Stammheim, Anm. G. G.), da war ich grade mit dem Auto auf einer Schnellstraße unterwegs und fuhr im Schock auf der rechten Spur plötzlich, so als wäre Rechtsverkehr. Zum Glück ist nichts passiert. Ich glaube, das hat damals viele Leute ziemlich aus der Fassung gebracht, und Dorothea natürlich auch. Aber sie hat ja auch so was Rationales, sie will handeln, sie hat was gemacht, als die Gelegenheit da war. Und die Gelegenheit war Manfred Grashof. Sie hat das "Projekt Manfred" systematisch angegangen, seine Befreiung vorangetrieben. Mit eisernem Willen und auch einer erstaunlichen Härte. Auch Härte gegen sich selbst eigentlich.
Also dann zu sagen, ich bin Frau Doktor, mein Mann ist Mörder, ich habe einen RAF-Gefangenen geheiratet, also damit kann man ja nicht so unbedingt Eindruck machen in der Gesellschaft oder bei den akademischen Kollegen. Aber das war ihr egal. Sie hat nicht den Ruhm gesucht, sie hat sich außerhalb dieser Konkurrenzzwänge bewegt. Das war ihre Geschichte. Sie hat sich dieses Ziel gesetzt und sie hat es sehr klug erreicht, mit legalen Mitteln, mit ihrer Reputation, ihrem Charme, ihrer Intelligenz, ihrem Geld, ihrer Zeit, Energie und Kraft. Sie hat alles investiert für eine Gefangenenbefreiung ohne Waffengewalt. Also wenn ich bedenke, was diese RAF alles an Morden begangen hat, um die Leute rauszuholen, es war ja ein Zwangsmechanismus. Und dann kam 1984 diese Frau und hatte ein kleines Gegenmodell. Das ist ihr hoch anzurechnen. Und sie hat das nie nach außen getragen. Hat das nie vermarktet!
Und es haben ihr auch immer Leute geholfen. Ganz wichtig war auch dieser Knastpfarrer bei der Manfred-Geschichte damals, dieser Holländer. Der hat wahnsinnig viel getan für Dorothea und Manfred - auch für Jünschke (ebenfalls RAF-Mitglied der 1. Generation, saß, wie Grashof, i. d. JVA Dietz. Anm. G. G.), die waren da so ein Doppelpack, Jünschke hat das Maul aufgemacht, hat was für die Entspannung getan und Manfred hat geschwiegen. Er hat sich aber von Dorothea natürlich gern verwöhnen lassen. Und dann hat sie mich auch noch dazu verdonnert, ihn im Knast zu besuchen. Ich hatte ja so wahnsinnige Angst vor dem Knast, also ich wollte nie mehr einen betreten, und dann das!
ber ich bin natürlich doch hin, weil der Manfred in meinem Fall auch eine wichtige Rolle spielte. Er war ja der, mit dem ich diese zweifache Mordanklage hatte, wir waren die beiden, die in die Falle geraten sind im Frankfurter Westend, und wir sind einfach nur weggelaufen. Die Beamten haben uns hinterhergeschossen. Und weil sie sauer waren, haben sie das Gegenteil behauptet. Das tobte durch alle Medien und hat angeheizt. Jedenfalls der Manfred trat damals, als ich nach Deutschland ausgeliefert worden war, in meinem Prozess auf als Zeuge, und er hat Aussagen gemacht! Das war, glaube ich, das erste Mal, dass überhaupt vor Gericht solche Aussagen gemacht wurden. Für ihn wahrscheinlich kein leichter Entschluss, denn es war ja so bei der RAF, dass man sich verweigerte, auch wenn man abgerückt war, es gab dieses Zusammengeschweißtsein, das hatte viele Gründe … Er war jedenfalls der einzige RAF-Gefangene, der bei mir auftrat. Ich hatte dann Kontakt zu Manfred, es gab Briefe zwischen mir und ihm.
Und Dorothea hat ihm dann auch geschrieben, sie kannten sich zwar schon von früher flüchtig, glaube ich, aber gesehen, oder wiedergesehen, haben sie sich dann erst bei meinem Prozess. Da haben sie erst Kontakt aufgenommen. Und dann hat sie mich später eben regelrecht … trotz meiner Angst. Ich habe bei jedem Besuch im Knast an der Tür so gezittert (sie macht es vor), ich wollte gar nicht rein. Manchmal ging es mir so schlecht, dass ich zu Dorothea gesagt habe: Du, ich geh da nicht rein, heute nicht! Und sie hat etwas scharf gesagt: GEHST du jetzt rein?!?! Und ich ging rein. So war sie auch. Jaja.
Sie war natürlich ungeheuer stolz dann, als er draußen war. Wie so ein Kind hat sie sich gefreut. Dann hat sie ihn geschmückt und in einen weißen Anzug gesteckt und sie hat ihn geknuddelt und geliebt und ich weiß nicht … und dann sind sie auf die Bermudas gefahren oder sonst wohin, irgendwie exotisch und ganz teuer. Also so was Neureiches oder so steckte in dieser ganzen Sache auch immer drin. (In der RAF?, vergewissere ich mich, und Astrid sagt irritiert: Wie meinst du das jetzt? Woraufhin ich die Vorliebe für schnelles Geld, teure Autos und die Verhaftung von Gudrun Ensslin in einer Hamburger Edelboutique erwähne.) Na ja, das hatte natürlich erst mal technische Gründe, wir mussten beweglich sein und wir durften nicht auffallen, es war auch so eine Art "Berufskleidung".
Und man hat natürlich auch so ein bisschen kompensiert, weil man ja sonst nicht viel hatte. Ich war mit ihr oft einkaufen … Also man hatte immer so seine "Uniform", hatte eine Lederjacke, eine anständige Hose, und einen anständigen Pullover, immer so einen Satz, aber man hatte auch was "für gut", na ja! Ich auch. Ich komme auch aus dem Mittelstand. Mein Vater war auch Aufsteiger, war ein erfolgreicher Architekt, der liebte Klamotten, hat sich alles schneidern lassen. Der hatte jeden Anzug vom Schneider machen lassen. Das habe ich hinterher erst rausgekriegt. Also, ich bitte dich! Und bei Dorothea - die habe ich nämlich gemeint - da hatte das auch immer ein bisschen was von Aufstieg, sie ist auch ein "social climber", sie konnte sich durchsetzen und auch was schaffen. Sie hat einen Aufstieg hingelegt und sie wollte auch sehen, was sie dafür kriegt! Es war für sie auch immer wahnsinnig wichtig, in Zehlendorf zu wohnen. Aber sie hat ja auch hart dafür gearbeitet, und in Zehlendorf ist es schön, da konnte sie sich erholen. Es war ihr aber immer sehr wichtig, sich in Zehlendorf zu erholen. Und andererseits hatte sie aber auch was Bescheidenes, war zufrieden. Und großzügig, sie hat gerne und vielen Leuten geholfen.
Sie war einfach sie selbst. Das gefiel mir. Sie war nicht so akademisch oder superpolitisch, sie hatte eher etwas sehr Weises, Kluges. Da war sie viel weiter als andere. Das Problem seit ihrem Schlaganfall ist, dass man eben nicht mehr so wie früher mit ihr sprechen kann, sich mit ihr austauschen oder auch ihren Rat einholen kann, jedenfalls momentan schwankt es sehr. Ich sehe sie auch nicht so oft und habe natürlich ein schlechtes Gewissen. Ich habe sie ja erst längere Zeit nach ihrem Schlaganfall wieder gesehen. Also in dieser ganzen Reha-Zeit, da muss es ihr ja furchtbar schlecht gegangen sein, sie konnte nicht reden, nicht gehen, nichts erinnern, hat sie erzählt. In dieser Zeit, in der sie immer nur in Krankenhäusern war, komischerweise hatte ich mit ihr da gar keinen Kontakt. Damals, 95/96 war ich ja in Berlin bei der Wochenpost, die dann so schmählich eingegangen ist, da stand ich plötzlich auf der Straße, ohne Job, und bin zurück nach Hamburg. Bis dahin haben wir uns noch gesehen.
Und dann hatte sie eines Tages eine Freundin, diese Claudia, mit der hat sie eine Wohnung ausgebaut und dann gabs einen großen Umzug. Wir haben uns noch ein paarmal gesehen, aber ich bin dann ziemlich überstürzt nach Hamburg, das war vielleicht ein Fehler. Ich habe dann diese Interferontherapie gemacht, was Wahnsinn war, sie hat gar nicht genutzt, dann wollte ich nach England, dann der Tod meines Vater, ich hatte ziemlich viele eigene Geschichten zu laufen. Ich war nicht mehr so nah dran, dass man mich angerufen hätte nach ihrem Schlaganfall. Ein gemeinsamer Freund von früher, Povl, hat mir dann irgendwann mal erzählt, was passiert ist. Und ich weiß gar nicht mehr, wann ich Dorothea dann wiedergesehen habe … ACH! In London!! Jetzt weiß ich es wieder. Sie waren zusammen in London, diese Claudia und Dorothea, ich glaube, es war 2003, und sie haben Catherine Fried besucht an einem Wochenende (die gerade zum 20. Todestag Frieds in Berlin ihre Erinnerungen "Über kurz oder lang" vorgestellt hat mit einer Lesung, bei der auch Dorothea anwesend war, Anm. G. G.).
Da habe ich Dorothea nach Jahren wiedergetroffen. Wir sind uns um den Hals gefallen. Und danach habe ich sie dann besucht hier in Berlin und besuche sie natürlich auch heute immer noch. Aber viel zu selten vielleicht. Sie sagt immer: "Astrid, du kannst mit mir nicht mehr reden, ich weiß nichts mehr von früher." Gut, ich bin keine Kriegsromantikerin. Aber es ist schwierig, im Gespräch immer im Jetzt zu bleiben. Vielleicht bin ich auch zu schnell, nicht rücksichtsvoll genug. Ich bin voller Bewunderung, wie sie das alles hinkriegt, dass sie dann so gelassen dasitzt an ihrem Küchentisch und mit mir lacht. Das ist, glaub ich, alles nicht so einfach, ihr Alltag ist schon eine ziemliche Schufterei für sie. Dazu braucht sie schon ihre Zeit. Sie beklagt sich nicht. Dorothea ist schon ein außergewöhnlicher Mensch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“
Rechtsruck in den Niederlanden
„Wilders drückt der Regierung spürbar seinen Stempel auf“
Koalitionsverhandlungen in Potsdam
Bündnis fossiles Brandenburg
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig