Kolumne Das Schlagloch: Das Lachen des Souveräns

Unsere Kultur ist eine Nehmerkultur. An ihren Rändern hat man dafür ein gutes Gespür.

Diese Kolumne handelt von zwei Geburtstagskindern und einem Ausgezeichneten der letzten Woche. Zuerst der Ausgezeichnete.

Alle anderen sagten ein paar sehr gerührte, sehr dankbare Worte ins Mikrofon und gingen wieder. Mit ihren Bären. Sotigui Kouyaté nicht. Sotigui Kouyaté, in Mali geboren, gewann auf der Berlinale den Silbernen Bären als bester Darsteller (im Film "London River"). Er ist schon alt, schon über siebzig, sehr krank ist er auch, man half dem Mann mit den Rastalocken auf die Bühne. Und da blieb er dann. Und sprach zum Publikum. Kluge Sätze, wie man sie von alten, in Afrika geborenen Männern erwartet, die in Filmen kluge alte Männer mit Rastalocken spielen, vor denen nicht ganz so kluge englische Frauen Angst bekommen.

Als Sotigui Kouyaté schon eine Weile gesprochen hatte, sagte er sehr kontrolliert-selbstreflexiv, dass es unklug sei, ihm so viel zu applaudieren, weil er dann vermutlich nicht aufhören würde zu reden. Sagte es, lächelte, um nun drei Geschichten anzukündigen, die er gleich erzählen werde. Und das machte er. Unbekümmert ums Protokoll, um Raum und Zeit. Kein Europäer hätte sich das getraut. Er hätte auch keine Geschichten erzählen können. In der zweiten kamen dreißig schwarze Männer vor, die einen Wunsch frei hatten. Alle, nacheinander gefragt, wollten weiß werden. Bis auf den letzten. Der wünschte sich, dass die anderen neunundzwanzig wieder schwarz würden.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel hätte wahrscheinlich keine dieser drei Geschichten gefallen. Und dass die neunundzwanzig Wunschweißen wieder schwarz werden sollten, nein, das geht nicht, das ist so - destruktiv. So sinnlos. Wie dieser ganze Erdteil, wie Afrika. So undiszipliniert? Hegel nannte Afrika das ewige "Kinderland der Geschichte".

Dass man sich plötzlich wieder erinnert, wie Hegel über Afrika dachte - haben wir das nicht längst vergessen, so wie das meiste unserer eigenen Vorgeschichte? -, verdanken wir einem sehr schmalen Buch mit dem umwerfenden Titel "Dostojewski liest in Sibirien Hegel und bricht in Tränen aus". Sibirien geht es bei Hegel nicht besser als Afrika: zwei Weltgegenden, wo nie etwas passierte und nie etwas passieren würde, das man sich merken müsste. Eine Bemerkung, die Dostojewski interessieren musste, denn er war soeben (1854) nach Sibirien verbannt worden, und zwar wegen seiner europäischen, quasihegelschen Ideen. Fortan wohnte er - wie Sotigui Kouyaté in Mali - außerhalb der Geschichte, am ewigen Rand der Welt.

"Dostojewski liest in Sibirien Hegel..." (Matthes & Seitz) ist eines jener Bücher, bei deren Lektüre man sofort weiß, dass die eigentlichen Philosophen nur ausnahmsweise an Universitäten zu finden sind. Sotigui Kouyaté verkörpert den Typus des Weisen, der wie ein Spiegel der Dinge ist, unverdorben durch schlecht verdautes abstraktes Wissen. Dostojewski wurde erst Dostojewski, nachdem er Hegel in Sibirien gelesen hatte. László F. Földényi, der Verfasser des Buchs, ist zwar Professor, aber ein ungarischer, also einer vom Rande. Wer versteht schon Ungarisch?

Das "Kinderland der Geschichte" also. "Der Neger stellt den natürlichen Menschen in seiner ganzen Unbändigkeit dar", hatte der von Földényi argwöhnisch betrachtete große Berliner Philosoph formuliert. In unseren nachhegelschen Ohren klingt das Wort "natürlicher Mensch" gar nicht übel, das liegt an unserer neuen Naivität. Für Hegel war es eine große Schmähung. Natürlich: also geschichtslos, bewusstlos, schuldunfähig.

Hegel nahm der Natur übel, dass sie keine ihrer Gestalten durchhielt. Und dass Kant für seinen Begriff des Erhabenen - "der bestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir ?" - noch diese vernunftlos glühenden Nachtleuchten zu Hilfe nehmen musste, hielt er für eine unwürdige Restsentimentalität! Weshalb Hegel den "bestirnten Himmel über mir" gegenüber seinen Studenten schon mal als "Aussatz am Himmel" bezeichnete. Ja, Hegel war sehr witzig. Nur ganz anders als Kouyaté.

Nicht, dass Hegel Menschen, die über die Natur nachdachten, gleichermaßen verachtete. Charles Darwin, den Jubilar dieser Tage, hätte er gewiss gern kennengelernt. Schon wegen der Grundprämisse. Von Gott abzustammen, war einem Protestanten wie Hegel längst kein Ehrentitel mehr, eher eine Verlegenheit. Gott zu werden, darin lag für ihn die ganze Ehre des Menschen. Die Rechtfertigung unseres Aufenthalts auf Erden. Nun gut, alle konnten nicht Gott werden. Nicht die Afrikaner und nicht die Sibiriaken. Nicht die vom Rand.

Darwin war zu sehr Naturforscher, um wirklich an die Gottwerdung des Menschen glauben zu können. Das übernahmen seine Schüler, die Rassentheoretiker. Viele seiner Schüler glaubten das dafür umso mehr. Und sie mussten zu ihrer Gottwerdung nicht mehr wie bei Hegel erst die ganze Geschichte durchlaufen. Nein, als Gott wird man geboren, dachten die Gottmenschen, die Rassentheoretiker, und fuhren nach Afrika, um die Nichtgottfähigen zu studieren.

Nicht nur Charles Darwin wurde pünktlich zur Bären-Vergabe an Kouyaté 200 Jahre alt. Abraham Lincoln, der große amerikanische Sklavenbefreier, auch. Wahrscheinlich hat das politisch korrekte europäische Durchschnittsbewusstsein inzwischen Schwierigkeiten, zu erklären, wie das überhaupt möglich war: Sklaverei im Mutterland der Menschenrechte?

Aber zur Schaffung eines Rechts ist das Recht meist nicht erforderlich. Eher stört es dabei. Unsere Kultur - Menschen von den Rändern wie Kouyaté, Dostojewski oder Földényi haben ein gutes Gespür dafür - ist eine Nehmerkultur. Wir sagen nicht mehr Kapitalist oder gar Ausbeuter, das klingt viel zu ideologisch. Wir sagen: Unternehmer. Das klingt nach Aktivität, nach Erfolg und sonst nach gar nichts. Stimmt aber nicht. Unter-nehmer. Die Wortgestalt bewahrt die nehmende Daseinsform. Erst nahmen wir Amerika, dann Afrika, dann die ganze Welt. Pioniere und Plünderer zugleich.

Einer der größten Amerikaner - Herman Melville, vor noch nicht ganz zweihundert Jahren geboren - hat einmal gesagt, Besitz sei das halbe Recht. Das halbe: also unabhängig davon, wie man dazu kam. Die Menschenrechte sind nicht quasigöttlich, nicht voraussetzungslos. Sie sind die andere, die hellleuchtende Seite der nehmenden Existenzweise. Sie sind ihre juristische Seele. Sie sind großartig und doch nicht ohne das Nehmertum zu begreifen. Das ist der unaufhebbare Circulus vitiosus, den alle Ränder bemerken. Und besteht die Welt nicht zunehmend aus Rändern?

Die Geschichte ist nicht die Geschichte der Gottwerdung des Menschen. Das Gute an ihr ist wohl nur, dass sie nicht noch einmal geschehen kann. Darum können wir über Kouyatés 29-plus-1-Geschichte lachen. Es ist ein Humor der Ränder.

Hegels Witz dagegen ist ein homerisches Lachen. Ein Lachen der imaginären Mitte. In menschlichem Munde, etwa bei Peter Hacks, wirkt es oft peinlich. Aber Hegel gibt seinen letzten Nachfolgern - nicht nur den Stalinisten und Hacksianern aller Couleur - bis heute das schöne Gefühl, der eigentlich Souverän der Geschichte zu sein.

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