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ILO-Wirtschaftsberater Stephen Pursey"Deutschland spielt eine Schlüsselrolle"

Um die Rezession wirksam zu bekämpfen, muss die Bundesrepublik ihre Finanzreserven internationalen Banken zur Verfügung stellen, sagt ILO-Wirtschaftsberater Stephen Pursey.

Derzeit gibt es rund 17 Millionen Arbeitslose in der Europäischen Union. Bild: ap
Ulrike Herrmann
Interview von Ulrike Herrmann

taz: Herr Pursey, wie viele Menschen werden weltweit ihren Arbeitsplatz durch die Finanzkrise verlieren?

ilo
Im Interview: 

Stephen Pursey, 56, arbeitet bei der International Labour Organization (ILO) in Genf und ist dort der Wirtschaftsberater des Generaldirektors. Pursey ist einer der Autoren des neuesten ILO-Reports über die Folgen der Finanzkrise für den Arbeitsmarkt. Der Bericht steht, allerdings nur auf Englisch, zur Verfügung ("Policy responses to the economic crisis; A decent work approach in Europe and Central Asia") unter www.ilo.org.

Stephen Pursey: Der Ausblick wird immer düsterer. Im Januar haben wir noch eine Studie veröffentlicht, die für den schlimmsten Fall prognostizierte, dass die Zahl der Arbeitslosen global um rund 50 Millionen bis Ende 2009 ansteigen würde. Inzwischen hat sich die Rezession derart verschärft, dass dies nicht mehr das Worst-Case-Szenario ist - sondern der wahrscheinlichste Fall.

Und was erwarten Sie für Europa?

Etwa vier Millionen Menschen dürften in der EU ihre Stelle verlieren. Momentan gibt es hier etwa 17 Millionen Arbeitslose. Weltweit sieht es sogar noch dramatischer aus: 2007 lebten weltweit 1,24 Milliarden Beschäftigte in Familien, die weniger als zwei Dollar pro Tag und Person hatten. Diese Zahl dürfte um weitere 200 Millionen steigen - was den Kampf gegen die Armut um mehr als zehn Jahre zurückwerfen würde. Diese Wirtschaftskrise ist ungeheuer ernst. Wir müssen endlich verstehen, dass wir uns nationale Alleingänge nicht leisten können. Übrigens spielt Deutschland eine Schlüsselrolle auf den internationalen Konferenzen.

Das dürfte viele Deutsche überraschen. Wir neigen dazu, unseren internationalen Einfluss eher als gering einzuschätzen.

Aber Deutschland ist eines der wenigen Länder, das über Finanzreserven verfügt! Die Bundesrepublik ähnelt China oder vielen Ölländern: Es wird deutlich mehr exportiert als importiert. In der Finanzkrise stellt sich die Frage, wo diese Reserven sicher investiert werden können.

Was würden Sie der deutschen Regierung raten?

Deutschland und die EU sollten die Europäische Investitionsbank oder die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sehr viel stärker unterstützen. Momentan gibt es kaum bessere Orte, um sein Geld sicher anzulegen. Diese Banken haben die besten Ratings und haben alle Kredite stets zurückgezahlt. Mit dem frischen Kapital könnten sie gefährdeten Ländern wie der Ukraine oder Pakistan helfen.

Zumindest die Ukraine ist ja gerade in allen Medien, weil dort der Staatsbankrott befürchtet wird.

Es ist ziemlich wahnsinnig, was momentan passiert: Der Internationale Währungsfonds (IWF) verlangt, dass die internationalen Konjunkturprogramme zwei Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung betragen sollen - aber gleichzeitig werden Länder wie die Ukraine gezwungen, ihre öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, um IWF-Kredite zu bekommen. In diesen Ländern wird der Abschwung durch den IWF also noch verstärkt. Es wäre viel sinnvoller, wenn die finanzstarken Länder ihren Nachbarn helfen und dort in Sozialprogramme investieren würden, um extreme Armut zu verhindern.

Bisher hat sich die deutsche Regierung nicht begeistert gezeigt, Geld für Konjunkturprogramme auszugeben. Eingeplant sind pro Jahr nur rund ein Prozent der Wirtschaftsleistung - während die US-Regierung unter Obama jetzt etwa doppelt so viel aufbringt.

Die beiden Länder lassen sich nicht unbedingt vergleichen. Deutschland besitzt ein starkes soziales Sicherungssystem, das als "automatischer Stabilisator" funktioniert: Arbeitslose werden unterstützt und behalten auch ihre Krankenversicherung, so dass sie weiterhin Geld ausgeben können - wenn auch eingeschränkt. Diese Stabilisatoren entsprechen etwa 1,5 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung. In den USA fehlt dieses System. Dort muss es erst vom Kongress bewilligt werden. Trotzdem wäre es natürlich für Deutschland und andere finanzstarke Länder ratsam, die Konjunkturpakete möglichst umfangreich anzulegen. Sollten sich die Prognosen als zu pessimistisch erweisen, kann man die Programme ja immer noch herunterfahren. Denn momentan ist das Risiko sehr viel größer, dass der Abschwung unter- als überschätzt wird.

Wie in den USA spielen Steuererleichterungen auch in Deutschland eine große Rolle. Eine gute Idee?

Steuererleichterungen wirken sehr schnell. Aber sie haben keinen so großen Multiplikatoreffekt wie etwa Investitionen in die Infrastruktur, die allerdings mehr Anlaufzeit benötigen. Ein Problem ist, dass Steuererleichterungen vor allem die Besserverdienenden begünstigen, die meist einen Teil des Geldes sparen. Daher sollte man lieber die einkommensschwachen Familien fördern.

Diese keynesianische Idee wird von vielen Ökonomen propagiert, konnte sich aber fast nirgends durchsetzen. Offenbar empfinden es die Steuerzahler als Zumutung, wenn ausgerechnet die Armen profitieren sollen.

Man kann doch nicht die Armen für die Bankenkrise verantwortlich machen! Im Gegenteil, sie sind am stärksten von der Rezession betroffen. Aber es gibt Modelle, die solche Fragen einfach umgehen: In Belgien hat man im vergangenen Dezember eine landesweite Vereinbarung getroffen, dass 2009 jeder eine Zulage von 125 Euro bekommt und später noch einmal 250 Euro. In einer Krisensituation schien dies allen fair und trotzdem haben die Armen, relativ gesehen, am stärksten profitiert.

Die Internationale Labour Organization (ILO) hat wiederholt kritisiert, dass der Anteil der Löhne am Volkseinkommen seit Jahren sinkt - während die Firmengewinne explodieren. Wird dieser Trend durch die Finanzkrise verschärft?

Es mag absurd erscheinen, aber es könnte genau das Gegenteil eintreten. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen dürfte steigen, obwohl gerade die Geringverdiener in der Rezession besonders leiden. Denn in der Krise fallen die Firmengewinne, was automatisch die Lohnquote erhöht. Mehr haben weniger, wenn man so will. Auch die Ungleichheit bei den Löhnen dürfte wieder schrumpfen, die in den vergangenen Jahren extrem zugenommen hat. Aber jetzt verschwinden die Millionengehälter an der Spitze, und viele Boni werden gestrichen. Den Normalverdienern und den Armen geht es schlechter - und trotzdem nimmt die Ungleichheit ab.

Lassen Sie uns ins Jahr 2012 springen. Wie sieht Ihre persönliche Prognose aus?

Ich wäre schon glücklich, wenn wir diese globale Rezession bis dahin überwunden hätten. Es macht mich nervös, dass der IWF und andere Institute den Beginn der wirtschaftlichen Erholung inzwischen schon ins Jahr 2010 verschieben - und ihre Voraussagen trotzdem recht wacklig aussehen. Denn die Prognosen beruhen auf zwei Annahmen: Sie setzen voraus, dass die Konjunkturprogramme funktionieren und dass sich die Finanzmärkte stabilisiert haben. Tatsächlich gibt es jedoch bisher international keine effektive Koordination der Konjunkturprogramme. Stattdessen experimentiert jedes Land mit seinen eigenen Maßnahmen. Und die Finanzmärkte befinden sich immer noch im totalen Chaos.

Um an den Anfang zurückzukehren: Was bedeutet das für die Arbeitnehmer?

Das eigentlich Schlimme ist, dass auch mit dem Beginn eines Aufschwungs nicht alles wieder in Ordnung ist: Danach wird es noch mindestens weitere fünf Jahre dauern, bis die Armut wieder so niedrig liegt wie vor dem Ausbruch der Krise.

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