Kolumne China: Was nicht passt, wird passend gemacht

Chinesen sind unglaublich pragmatisch. Als kontrollfixierter Deutscher hat man damit seine Probleme.

Als ich in Beijing zum ersten Mal den Duschhahn aufdrehte, wusste ich, wovon diese Kolumne handeln musste. Ich stand unter dem Wasserstrahl und sah zu, wie das Bad sich zügig zu einem Drei-Quadratmeter-Staudamm entwickelte. Denn auf eine Duschwanne hatten die Einrichter des Hotels ebenso verzichtet wie auf eine Vertiefung rund um die Stelle, wo eigentlich das Wasser ablaufen sollte. Das Fortlassen eines Duschvorhangs war da nur konsequent. Als ich später die freundlichen Damen am Empfang fragte, wie ich solche Überflutungen verhindern könne, blickten sie mich verständnislos an und auch etwas mitleidig.

Ich begann zu verstehen, was chinesischer Pragmatismus ist. Häufig gebrauchen Chinesen die Redewendung "Chà bù du". Sinngemäß lässt sie sich übersetzen mit "Passt schon". Die Feuchtigkeit frisst sich in jedem dritten Badezimmer die Wände hoch? Macht nichts. Man kann doch alle paar Tage große Gebläse vor die Räume stellen und mit lautem Getöse stundenlang warme Luft ins Zimmer blasen. Wörtlich übersetzt heißt "Chà bù du" in etwa "Fehlt nicht viel". Besser lässt sich nicht auf den Punkt bringen, was Chinesen und Deutsche unterscheidet. Chinesen meinen "Fehlt nicht viel" positiv: Was nicht passt, wird halt passend gemacht. Besonders schöne Beispiele dieser Glas-halbvoll-Mentalität liefern nicht nur Duschen, Übersetzungen und Schulgebäude in Erdbebengebieten, sondern auch der Straßenverkehr. Seine Regeln erachtet man in der alten Handelsstadt Beijing eher als interessante Verhandlungsbasis.

Auto- oder Radfahrer dürfen nicht erwarten, sie hätten Vorfahrt, nur weil die Ampel Grün zeigt. Von allen vier Seiten schieben sich telefonierende Radfahrer, todesmutige Fußgänger und die stetig steigende Zahl der Autofahrer langsam zur Mitte der Kreuzung vor. Wer die anderen durch Hupen, Weiterfahren, Weggucken oder am besten alles gleichzeitig davon überzeugt, dass er notfalls Tote in Kauf nimmt, kommt mit knappem Vorsprung als Erster durch. Weil in diesem Stellungskrieg aber jeder Raumgewinne vorweisen kann, verliert niemand das Gesicht. Beijings Straßenverkehr folgt dem bewährten Swingerclub-Motto "Ein bisschen was geht immer".

Da ist es gut, dass alle Taxis, in denen ich bislang saß, Sicherheitsgurte hatten. Weniger gut ist, dass in fast allen die Schnallen fehlten, um die Gurte auch zu befestigen. Einmal bat ich eine mitfahrende chinesische Bekannte, unseren Fahrer nach dem Grund zu fragen. Der antwortete gleichgültig: "Die müssen da sein." Damit war für ihn die Sache erledigt. Für meine chinsische Bekannte auch.

Auf meine womöglich unterkomplexe Entgegnung "Wie jetzt?" antwortete meine Begleiterin ruhig: "Es gibt ein Sprichwort im Chinesischen. ,Wenn der Karren am Fuße des Berges angekommen ist, wird dort schon eine Straße sein.'" Ich war nicht so unhöflich, danach zu fragen, was mir dieser Optimismus brächte, hätte ich schon auf dem Weg zum dusseligen Berg einen Autounfall. Stattdessen übte ich mich in der bei Deutschen wie Chinesen beliebten Selbstkritik. "Deutsche", sagte ich, "würden sich auch dann Sorgen machen, wenn sie wüssten, dass dort eine Straße ist. Steine könnten sie ja versperren, oder schlechtes Wetter könnte die Sicht trüben, oder …" Mir fiel da vieles ein. Als ich ins Gesicht der Chinesin blickte, sah ich darin wieder dieses Unverständnis und auch ein wenig Mitleid.

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Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wird von der Kritik gefeiert.

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