piwik no script img

Kolumne ZeitschleifeSmeinplatz, dein Platz

Kolumne
von Josef Winkler

Höflichkeit ist eine Zier, und können sie nicht ohne ihr - dann bleiben sie lieber daheim.

H allo." Was? "Hallo", dringt es durch den dicken Plüsch meines süßen, flokatitiefen Schlafes, wie man ihn kostbar selten findet in den Hartsitzen eines ICE. "Hallo." Ich hebe dumpf die schweren Lider, vor mir steht ein älterer Mann und glotzt stumpf. "Smeinplatz." Smei…? "Smeinplatz", wiederholt er und hält eine Fahrkarte hoch. Mein Hirn rechnet noch, da schaltet sich meine Freundin ein und klärt so freundlich wie flink das Missverständnis: Der Herr hat sich im Wagen geirrt - das hier ist 32, er hat eine Reservierung für 33. Wort- und gestenlos wendet er sich von uns ab und geht weiter.

taz

Josef Winkler (35) lebt und arbeitet, was sein Nervenkostüm und Zeitbudget nicht unerheblich in Anspruch nimmt, in München und Palling. Hobbies: Zeichnen, Tiere, Musik, Nichtschwimmen.

Und ich hänge entsetzlich wach in meinem Sitz und frage mich, warum ich derzeit bei geschätzt 80 Prozent der Leute, die mir unterkommen, das Gefühl habe, dass sie noch nicht fertig erzogen sind. We hold these truths to be self-evident: Wer im Zug einen Schlafenden WECKT, um ihn anzuquatschen, er sitze auf einem fremdreservierten Sitz, sollte sich vergewissert haben, dass er zumindest im RICHTIGEN WAGEN ist. Sitzt die Lebensgefährtin des Schlafenden zeitunglesend neben diesem, so quatsche man zunächst sie an - vielleicht klärt sich die Angelegenheit, ohne dass unnötig harterkämpfter Schlummer gestört wird. Lässt sich ein Anquatschen nicht umgehen, so hält jede der gängigen Sprachen unverbindliche Höflichkeitsfloskeln bereit, die ein zivilisiertes Gelingen des Kommunikationsversuches ermöglichen.

Letzte Woche machte mich eine Frau im Supermarkt staunen. Als erster einer größeren Welle von Einkäufern trat ich an die einzige besetzte Kasse. Ich war eilig, ließ jedoch galanterweise einer Dame den Vortritt, die nur ein Fläschchen Apfelschorle zu bezahlen hatte. Die bedankte sich - und hatte dann sogleich nichts Wichtigeres zu tun, als den Kassierer in einen Disput um den falsch ausgezeichneten Preis der Schorleflasche zu verwickeln. Bald wurden "zweite und dritte Kasse, bitte" geöffnet und fertigten den hinter mir herandrängenden Kundenstrom ab. Ich aber war an Kasse eins gefangen, wo sich die Wahrnehmung der Verbraucherrechte meiner Vorderfrau - Streitwert: elf Cent - verdrießlich hinzuziehen begann.

Nun wurde herumtelefoniert und diverse MitarbeiterInnenhinzugezogen, Strichcodes abgeglichen und auf Nachfrage der Kundin, der es offensichtlich "ums Prinzip" ging, die Fehlerquelle ermittelt. Selbst der Dackel des Herrn drüben an Kasse drei rollte peinlich berührt mit den Augen - die Jeanne d'Arc der Apfelschorlenauspreisung aber sah sich nicht veranlasst, auch nur mir, ihrem Wohltäter, einen bedauernden Seitenblick zu schenken.

Noch eine Supermarktszene. Kassel-Wilhelmshöhe. Mein Freund Arno und ich tragen Lebensmittel zur Kasse. Arno hat seine süße kleine Tochter auf dem Arm, und ich würde sagen, wir treten auch sonst recht un-asozial auf. "Eine schöne Unterschrift bitte", blökt die Kassiererin und vergleicht dann meine Schriftproben auf Kassenbon und EC-Karte mit einer Akribie, als hätte ich gerade Zugang zu Fort Knox beantragt. "Hamwer ALLES schon gehabt!", informiert sie die Kundin hinter mir, mich keines weiteren Blickes würdigend. Ich nehme mir vor, die Kuh beim nächsten Mal mit einem bewaffneten Raubüberfall zu beehren, damit sie mal was Neues erlebt, verwerfe den Gedanken aber bald wieder. Vielleicht werde ich stattdessen in Zukunft mehr zu Hause bleiben. Die böse Welt - sie hätte es nicht besser verdient. Oder was meinen Sie?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!