John Axelrod über Musik: "Was ich höre, schmecke ich auch"
John Axelrod, klassischer Dirigent, Jazzmusiker, ehemaliger Popmusik-Scout, Weinhändler und Bernstein-Schüler über Wagner, "Twist and Shout" - und seine Vision von einer Musik, die die Welt verändert.
taz: Herr Axelrod, was macht Sie einen Abend lang zuverlässiger glücklich: eine Flasche Wein oder ein Abend voll Musik?
John Axelrod: Es ist wie beim Wein: Je älter die Musik ist, desto besser wird sie. Beides, Wein und Musik, haben viel Qualität. Ich habe eine sehr subtile Empfindung beim Schmecken und beim Hören. Was ich höre, schmecke ich auch. Und umgekehrt.
Wirklich! Das heißt, wenn Sie Musik hören, haben Sie einen bestimmten Geschmack im Mund?
Erstmals wurde der Komponist und Dirigent Leonard Bernstein 1983 auf den damals 16-jährigen Pianisten John Axelrod aus Texas aufmerksam. Axelrod studierte danach Musik in Harvard und vertiefte seine Jazzkenntnisse. Er wurde eine Art Bandscout bei Musiklabels wie BMG, wo er unter anderem die Smashing Pumpkins betreute. Nach einer Zeit als Leiter einer Weinakademie in Kalifornien kehrte er zur Musik zurück und arbeitet seitdem als Dirigent bei vielen international renommierten Orchestern. Gegenwärtig ist Axelrod Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters. In der Spielzeit 2010/11 wechselt er zum Orchestre National des Pays de la Loire. Derzeit ist Axelrod auf einer Europatour mit dem Jazzer Herbie Hancock und dem Pianisten Lang Lang.
Genau! Aber ich kann nicht zu meinem Orchester sagen: Ein bisschen mehr Salz bitte. Für mich ist eine gute Musik und ein guter Wein das Gleiche.
Welcher Wein passt zu welcher Musik?
Rotwein passt zu symphonischer Musik oder Oper. Aber ich liebe auch populäre Musik, Rockmusik. In diesem Feld habe ich auch gearbeitet.
Wenn Sie ein Glas Rotwein trinken, welche Musik, welchen Ton hören Sie dann?
Es ist nur ein Ton, es ist keine Melodie. Meine Lieblingssymphonie von Beethoven ist die "Pastorale", von Wagner ist es "Tristan und Isolde". Beim Klavier mag ich die Stücke von Chopin am liebsten. "Tristan und Isolde" war die Brücke von meinem Leben für Popmusik und Wein zurück zur klassischen Musik.
Sie waren eine Art Bandscout, "A & R" genannt, für das große Label BMG und Weinhändler sowie Restaurantbesitzer, was sich ziemlich toll anhört - haben diese Zeit aber "verlorene Zeit" genannt. Warum?
Ich bin erst sehr spät, mit 28 Jahren, Dirigent geworden. Ich bin wohl der einzige Dirigent, der mal "A & R" und Direktor eines Weinzentrums war. Aber ich habe schon mit 16 Jahren bei Leonard Bernstein gelernt.
Der hat Ihnen gesagt, Sie sollten Dirigent werden.
Ja, das hat er zu meiner Mutter gesagt. Warum? Weil ich die Menschen zu sehr liebe. Aber wenn ein Held, bei mir war es Lenny, der Dirigent, so etwas sagt, dann ist das viel zu tragen.
Warum sind Sie ihm nicht gefolgt?
Das Problem war: Die Erwartung war zu hoch. Ich sagte mir, nein, es kann nur den einen Dirigenten geben, Leonard Bernstein. Ich dachte, ich bin doch Klavierspieler und liebe Popmusik. Ich fragte Bernstein: Ich liebe Popmusik und klassische Musik - muss ich mich entscheiden? Nein, sagte er, es gibt drei Arten von Musik: schlechte, gute und hervorragende Musik. Wenn du nur die hervorragende Musik spielst, ist das Leben schön.
Hatte er recht?
Ja. Ich habe Blues vor Bach gespielt. Mit 16 hat Bernstein nach einem Vorspiel zu mir gesagt: Komm nach der Schule zu mir und wir lernen zusammen.
Das ist eine große Ehre.
Puh! Mit 16 wusste ich das noch nicht, aber heute. Ich habe von Bernstein viel gelernt. Meine Philosophie ist Liebe, Respekt, Toleranz und Versöhnung. Die Musik, die ich heute mache, dreht sich immer um diese Dinge.
Wenn Sie diese Förderung durch Bernstein hatten, warum gingen Sie trotzdem nach Harvard, um da zu studieren?
Das hatte mit meinen Eltern zu tun - obwohl Bernstein auch ein Harvard-Student war, ebenso wie mein Vater und Großvater. Es war eine Art Familienerbe. Mein Vater sagte zu mir, ich sei doch kein Musiker. Er ist ein Geschäftsmann.
Er hatte nicht genug Vertrauen, dass Sie Dirigent werden könnten.
Ja, vielleicht. Ich meine, ein Kind aus Texas - was ist das schon? Aber in der Komischen Oper in Berlin haben wir auch einen Texaner, wir haben einen Dirigenten aus Venezuela und einen Pianisten aus China. Mein Vater war praktisch veranlagt. Für ihn kommt Freiheit aus Sicherheit. Für mich entsteht Sicherheit aus Freiheit. Ich bin ein Musiker, kein Geschäftsmann. Aber mit meiner Erfahrung im Pop-Business habe ich viel Gespür für das Geschäft.
Das ist ja auch nicht unwichtig heute.
Ja, nach meiner Ausbildung am Petersburger Konservatorium, wo ich unter anderem bei Ilja Mussin gelernt habe, habe ich in Houston das OrchestraX gegründet, das ein neues Publikum für klassische Musik gewinnen will, innovativ im Programm und der Präsentation. Wir zielten auf die "Generation X", von 18 bis 38.
Ist ein junges Publikum kritischer als ein älteres?
Es ist weniger kritisch, es ist ganz offen für alles, für neue Musik und eine neue Präsentation. Wir leben im 21. Jahrhundert. Es gibt heute mehr Komponisten und Orchester als je in der Geschichte der Musik. Und es gibt mehr Mittel, diese Musik zu übertragen, übers Internet, über die neuen Techniken. Ich bin Optimist. Okay, ich bin ein Amerikaner - oder vielleicht ein Ameropäer. Es ist eine gute Zeit für klassische Musik. Diese Zeit ist wie ein Labor, in dem wir Experimente machen. Wohin wir gehen werden, weiß ich nicht. Viele sind pessimistisch.
Es gehe bergab mit der Musik.
Ja. Es sei vorbei mit der klassischen Musik. Wir hätten kein Publikum und keine Talente. Blablaba. Andere sind optimistisch. Ich bin auf der optimistischen Seite.
Sie haben als A & R bei BMG unter anderen Marc Cohn und die Smashing Pumpkins entdeckt, Tori Amos gefördert. Für viele Ihrer Generation wäre das ein Traumjob gewesen, Sie haben es aber als Tiefpunkt bezeichnet. Warum?
Mit 22 Jahren A & R zu sein ist fantastisch - und mit 26 Jahren Direktor eines Weinzentrums ebenso. Es sind Traumjobs. Aber ich war bloß ein Konsument, kein Schöpfer. Ich machte Verträge mit Musikern. Aber ich selbst habe nichts geschaffen. Das war das Problem.
Wie kam es dann zur Wende in Ihrem Leben?
Eines Nachts im Napa Valley habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich hielt mich an den Ratschlag: Follow your bliss - folge deinem Glück. Ich hatte dort eine Epiphanie. Ich machte mir die ganze Zeit Gedanken: Hat Lenny recht, soll ich ein Dirigent sein? In meinem Kopf hörte ich die ganze Zeit das Vorspiel von "Tristan und Isolde". Dann stoppte ich das Auto. Ich schaute auf die Landschaft, das Napa Valley. Es war eine ruhige Nacht, ohne Wind, ohne Vögel, ohne Frösche. Es war heilig in diesem Moment. Ich habe eine sehr spirituelle Kraft gespürt - vielleicht Gott, ich weiß es nicht. In diesem Moment habe ich nicht die Musik gewählt, die Musik hat mich gewählt. Ich machte das Auto wieder an. Und hörte im Radio das Vorspiel von "Tristan und Isolde".
Das haben Sie als Zeichen gesehen.
Ja. Am nächsten Tag habe ich einen Brief geschrieben, dass ich meine Arbeit aufgebe und meinem Glück folge.
Da Sie auch ein Kenner der Popmusik sind: Kann Popmusik so wertvoll sein wie die klassische Musik?
Es ist einfach unterschiedlich. Ich brauche klassische Musik. Sie ist tiefer, sie hat mehr Nuancen, sie hat mehr Subtilität. Sie ist eine große Herausforderung für das Leben und für mich - und ich brauche für mein Leben eine Herausforderung. Aber Popmusik ist auch fantastisch. Zum Beispiel "Twist and Shout", das nur drei Harmonien hat, C, F und G. Das ist alles! Ich liebe die Artrock Progressive Bands wie Genesis, Yes, Led Zeppelin, The Who, Emerson, Lake and Palmer. Und Pink Floyd, das sind für mich die Besten. Vielleicht habe ich eines beim Rock n Roll gelernt: was gut ist für ein neues Publikum. Deshalb ist das OrchestraX auch ein großer Erfolg.
Und was haben Sie noch gelernt?
Dass klassische Musik, Musik generell ganz subjektiv und abstrakt ist. Ich liebe Messiaen und Strawinsky - vielleicht lieben Sie sie nicht. Rock n Roll ist konkreter. Schauspieler in Hollywood arbeiten für einen humanitären Zweck. Ich glaube, das ist der neue Weg für klassische Musik im 21. Jahrhundert. Es gibt nicht nur einen künstlerischen, sondern auch einen humanitären Grund. Es gibt das West-Eastern Divan Orchestra, das Orchestra for World Peace, das Simón-Bolívar-Orchester aus Venezuela, es gibt Projekte der United Nations und der Unesco. Musik könnte der Grund für unsere Zukunft sein.
Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?
Wir wissen heute mehr als in jeder anderen Epoche unserer Geschichte. Warum ist Beethovens Neunte die Hymne für die Europäische Union? "Alle Menschen werden Brüder" heißt es da. Das ist heute nicht nur Poesie und Musik. Die Musiker, die Dirigenten und das Publikum sind nicht mehr die gleichen wie früher. Deshalb muss die klassische Musik der Gesellschaft etwas geben, nicht nur Musik. Warum ist Bono in Afrika? Warum kann das nicht auch klassische Musik? Ich glaube, dass Musik das Leben verändern kann. Klassische Musik für die ganze Welt.
Und sie wird auch von allen verstanden?
Das kommt. Vielleicht schauen wir in 10 oder 20 Jahren zurück und können alle losen Punkte von heute zu einer Linie verbinden. Heute wissen wir nicht, wohin wir gehen. Es ist nicht mehr so wie früher. Man kann Musik nicht mehr nur für die Musik spielen, glaube ich.
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