Montagsinterview mit Cornelia Reinauer: "Istanbul ist wie Berlin eine Stadt, die man auch aushalten muss"
Schon vor ihrer Zeit als Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg verliebte sich Cornelia Reinauer in Istanbul - und zog 2006 dorthin. Nun pendelt sie als "Transmigrantin" zwischen beiden Städten.
taz: Frau Reinauer, Istanbul ist derzeit total angesagt in Berlin. Warum eigentlich?
Cornelia Reinauer: Ich glaube, es ist die Mischung aus einer multiethnischen Riesenmetropole mit einem vielfältigen kulturellen und historischen Erbe mit all den Problemen, die eine solche Stadt hat, mit der Lebendigkeit eines sich selbst organisierenden Chaos. Istanbul ist wie Berlin eine Stadt, die man auch aushalten muss.
Was lernt man, wenn man aus Berlin nach Istanbul kommt?
Dass der gerade auch von Politikern gern gesagte Satz, Istanbul sei zwar eine moderne Metropole, aber nicht die Türkei, unzutreffend ist. Istanbul bildet in seinen einzelnen Bezirken das ganze Land in seiner Vielfalt und Unterschiedlichkeit ab. Meine Wohnung liegt in Beyoglu, einem sehr kosmopolitischen Bezirk. Gehe ich aber nur einige Straßen weiter nach Tarlabasi, wo viele Zuwanderer aus Südostanatolien leben, bin ich eigentlich in Diyarbakir. Istanbul ist wie Berlin ein Ort multikulturellen Zusammenlebens. Das macht die Stadt so anziehend und interessant.
Was ist Ihre bisher wichtigste Erfahrung als Migrantin?
Cornelia Reinauer, 56, war ab 2002 Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg. Sie gehört der Linkspartei an.
Im Jahr 2006 beendete die gelernte Bibliothekarin ihre politische Karriere und zog in ihre neue Wahlheimat Istanbul, wo sie seither vorwiegend lebt. Dort setzt sie sich unter anderem für die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst und das Forum Berlin-Istanbul für Austauschprojekte im Bereich Kultur, zivilgesellschaftliche Entwicklung, Umgang mit Vielfalt und Stadtentwicklung ein. In Berlin unterstützt sie als Präsidiumsmitglied die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK).
Seit 1989 sind Berlin und Istanbul Partnerstädte - nicht nur wegen der engen Verbindungen, die durch die Einwanderung aus der Türkei entstanden sind. Schon der frühere Regierende Bürgermeister Ernst Reuter hatte Verbindungen in die Türkei: Der Sozialdemokrat lebte von 1935 bis 1946 als Nazi-Flüchtling dort.
Zur Feier von 20 Jahren Städtepartnerschaft gibt es eine Menge Veranstaltungen: In der Dresdner Straße in Kreuzberg schmücken Bilder der Transitstrecke Istanbul-Berlin der Fotografin Ute Langkafel die Hauswände. Das Kreuzbergmuseum zeigt alte Istanbuler 3D-Fotografien. Im Saalbau Neukölln sind Karikaturen aus der Türkei zu sehen. Das komplette Programm: www.berlinistanbul2009.org.
Eine Erfahrung, die ich immer wieder mache, wenn ich Besucher aus Deutschland hier habe: Wie gering deren Wissen über die Türkei ist. Ich finde es beschämend, dass nach 40 Jahren Migration viele Deutsche so wenig wissen über die Menschen und das Leben dort.
Was sollte man denn wissen?
Dass die Türkei keineswegs so rückständig ist, wie viele immer noch vermuten, dass das Land Neugierde und Respekt verdient. Oft sind die Gäste erstaunt, was für eine pulsierende Großstadt Istanbul ist. Trotzdem sollte man ein paar Sachen darüber wissen, wie man sich hier benimmt.
Wo muss man sich in Istanbul anders benehmen als in Berlin?
Etwa beim offenen Austausch von Zärtlichkeiten: Es gibt in Istanbul nur wenige Orte, wo das üblich ist. Das passiert etwa in Beyoglu, aber in bestimmten anderen Stadtteilen nicht.
Es gibt in Istanbul Orte, wo man genauso leben kann wie in Berlin, und es gibt Orte, wo das unmöglich ist?
Ja. Ich gehe gerne auf den Markt nach Fatih auf der Südseite des Goldenen Horns im alten Istanbul. Meine türkischen Freunde würden da niemals hingehen. Das Viertel ist ihnen zu traditionell und konservativ. Als ich 1981 das erste Mal in Istanbul war, war es schwer, sich dort als Touristin zu bewegen. Die schwarz verhüllten Frauen dominierten das Bild und man wurde schief angeguckt. Aber das hat sich sehr verändert, ist offener geworden. In Tarlabasi fällt man dagegen als Fremde sehr auf.
Ist das ein unangenehmes Auffallen?
Man wird sehr intensiv beobachtet. Das Viertel ist wie eine geschlossene Gesellschaft: Das Leben spielt sich auf der Straße ab.
In welcher Stadt fühlen Sie sich sicherer?
Ich habe mich in Berlin immer sicher gefühlt und tue das auch in Istanbul. Allerdings haben wir - ich wohne mit Freunden in einer WG - bewusst eine Wohnung in einem Teil des Istanbuler Zentrums gesucht, von dem ich wusste, dass ich hier auch als Frau nachts alleine nach Hause gehen kann. Ich habe aber auch nicht das Gefühl, dass es für mich in Istanbul so etwas wie eine No-go-Area gibt.
Was hat Sie eigentlich bewogen, nach Istanbul zu gehen?
Anfang der 80er war ich gemeinsam mit einem Kollegen in einer Kreuzberger Bibliothek für den türkischsprachigen Buchbestand zuständig. Wir sind ein- oder zweimal im Jahr nach Istanbul geflogen, um Bücher auszusuchen. 1981 habe ich drei Monate in Istanbul verbracht, um die Sprache zu lernen, und mich damals schon, obwohl das eine schwierige Zeit war kurz nach dem letzten Militärputsch, in die Stadt verliebt. Nun lebe ich mit zwei deutschtürkischen FreundInnen zusammen, einer Schauspielerin und einem Filmproduzenten. Wir zählen uns zu den sogenannten Transmigranten, die zwischen zwei Heimaten hin- und herpendeln.
Was vermissen Sie, wenn Sie in Istanbul, was, wenn Sie in Berlin sind?
In Istanbul vermisse ich manchmal die Ruhe des Lebens in Berlin, das viele Grün. In Berlin vermisse ich den Bosporus und den Morgengruß der Möwen. Aber ich kann das gut aushalten, da ich ja weiß, ich sehe die jeweils andere Welt bald wieder.
Konservative Politiker wären damit nicht einverstanden: Sie möchten lieber Doppelstaatsbürgerin bleiben, statt sich irgendwo richtig zu integrieren! Fällt Ihnen denn das Switchen zwischen solchen verschiedenen Wertesystemen, wie Sie vorhin beschrieben haben, gar nicht schwer?
Nein. Man verändert sich und sein eigenes Wertesystem dabei. Natürlich ist man von der Kultur, in der man aufgewachsen ist, stärker geprägt. Aber das verwischt irgendwann. Ich merke das, wenn meine Mitbewohner über das Leben in Istanbul schimpfen und ich ihnen sage: Leute, jetzt seid ihr mal wieder deutscher als die Deutschen. Sie sagen dann: Du bist ja schon türkischer als wir. Das ist doch spannend! Ich bin ja im Schwabenland aufgewachsen und mit meiner schwäbischen Seele nach Berlin migriert. Das war auch schon ein großer Schritt. Ich musste wirklich Hochdeutsch lernen! Und als ich als schwäbische Kreuzbergerin in die Politik ging und damit in Marzahn angefangen habe, war das wieder ein völlig anderes kulturelles Wertesystem, in dem ich mich zurechtfinden musste. Die Spannbreite unterschiedlicher Lebensentwürfe ist in Istanbul mit all seinen Minderheiten ebenso groß wie in Berlin. Das Umsetzen solcher Lebensentwürfe ist aber sicher dort oft härter ist als in Berlin.
Wieso?
Istanbul ist bei aller Faszination auch eine unglaublich brutale Stadt. Ein Großteil der Menschen in dieser 17-Millionen-Metropole führt einen ganz harten Überlebenskampf. Es gibt so gut wie keine soziale Absicherung. Viele, die vom Land in die Stadt migriert sind, leben nur mithilfe der Großfamilien, und auch viele junge Menschen könnten ohne die Verwandtschaftsstrukturen nicht überleben. Das schränkt die Möglichkeiten ein, sich als Individuum zu entfalten. Das ist ein großer Unterschied zu Berlin und Deutschland.
Es gibt aber auch großen Reichtum.
Ja, aber die reiche Elite lebt mehr oder weniger völlig abgeschottet und zunehmend abgeschottet in geschlossenen Cities oder hinter Mauern verrammelten Villen am Bosporus entlang. Noch ist das nicht so wie in manchen lateinamerikanischen Städten, aber der Weg führt dorthin. Es gibt zunehmend aber auch eine wohlhabende, gutsituierte, auch intellektuelle Mittelschicht, die etwa in Beyoglu lebt. Und die dort, ganz ähnlich wie in manchen Bezirken Berlins, durch Modernisierung von Häusern und Miet- oder Kaufpreissteigerung die eingesessene Bevölkerung verdrängt. Besonders betroffen waren die hier ansässigen Transsexuellen.
Werden schwul-lesbische und Transgender-Lebensweisen in Istanbul akzeptiert?
So weit wie in Berlin ist man in Istanbul nicht, dass man sagt, das ist eine akzeptierte Lebensform unter vielen. Oder dass sich gar Politiker offen zu ihrer Homosexualität bekennen. Aber das hat sich ja auch hier erst in den letzten Jahren so entwickelt.
Stimmt der Eindruck, der hier oft vermittelt wird, dass in Istanbul ein erstarkender Islam bestimmte Lebensweisen wieder verdrängt? Oder wird da etwas aufgebauscht?
Dies ist ein sehr kompliziertes Thema. Auch mir fällt es sehr schwer, das zu bewerten, ich kann mich dazu eher als Beobachterin äußern. Tatsächlich sind offene islamische Lebensweisen in der Stadt in den letzten Jahren sichtbarer geworden, sind nicht mehr nur auf Unterschicht beschränkt: Es gibt eine wohlhabende Mittelschicht, Universitätsprofessoren, Geschäftsleute, in der Kopftuch getragen wird. Es gibt neuerdings in Istanbul Friseursalons für Musliminnen, wo Frauen sich, wenn sie ausgehen wollen, ihre Kopftücher auf besondere und besonders schöne Art stylen lassen können. Auch das schleichende Alkoholverbot ist spürbar: Dass in einem bestimmten Umkreis um eine Moschee kein Alkohol verkauft wird, ist Tradition. Aber nun gehen auch Besitzer anderer Lokale dazu über, keinen Alkohol zu verkaufen.
Sind das Zuwanderer aus ländlichen Gebieten oder alteingesessene Städter, die sich neu zum Islam bekennen?
Ich glaube, beides. Die türkische Gesellschaft befindet sich in einem Transformationsprozess - und wohin sich das Land entwickeln wird, ist derzeit noch nicht so richtig klar. Es gibt die alten Kemalisten, die sagen, wir sind froh über die Macht des Militärs, das uns einen säkularen Staat garantiert. Dann gibt es die neu erwachende islamische Elite, die wächst und ihre Macht ausbaut. Und auf politischer Ebene leider wenig dazwischen: Denn die libertären Intellektuellen, die Künstler und andere zivilgesellschaftliche Akteure haben auf der politischen Ebene keine Ausdrucksform. Ihre Diskussionen spielen sich in privaten Zirkeln und nur selten auf der öffentlichen Ebene ab.
Die Ermordung von Hrant Dink, dem armenischen Journalisten, war so ein Anlass, der diese Gruppe öffentlich sichtbar werden ließ. Es brechen, nachdem die AKP nun lange an der Regierung ist, alte Identitätsfindungsprozesse auf, die die Kemalisten unterbunden haben. Auffällig ist, dass sich in letzter Zeit viele Menschen eher über ihre ethnische Herkunft, also als Tscherkesse, Armenier, Laze, Kurde, Grieche definieren. Kaum jemand in den aufgeklärten Kreisen beschreibt sich gerade als Türke. Andererseits sind die Menschen kaum in der Lage, mit dieser Diversität umzugehen. Das zeigt sich daran, wie schwer es ist, eine Lösung für den Umgang mit den Kurden zu finden, die aber gefunden werden muss und die ja auch viele wollen.
Sie versuchen, zum Beispiel über das Forum Berlin-Istanbul, Projekte durchzuführen, die sich auf künstlerischer oder lokalpolitischer Ebene mit Migration, ethnischer und sozialer Vielfalt und dem Umgang damit beschäftigen. Klappt das?
Ich habe aus meiner Zeit als Politikerin und Bürgermeisterin gute Kontakte zu einigen Istanbuler Verwaltungen. Aber vieles läuft hier anders. Es ist ein anderes System, erheblich paternalistischer und personenabhängiger als unseres. Das heißt, es gibt wenig Transparenz dabei, wie Entscheidungen getroffen, Gelder verteilt werden. Deshalb ist es ganz wichtig, dass man die richtigen Menschen in der Verwaltung überzeugen kann. Dann laufen Projekte auch.
So? Wie läuft es denn hier?
Natürlich muss man auch in Berlin die richtigen Ansprechpartner finden. Aber es gibt transparentere Auswahlverfahren für Projekte, und nach der Entscheidung eine gewisse Verfahrenssicherheit.
Wie können denn zwei so verschiedene Systeme überhaupt zusammenarbeiten?
Durch Erfahrungsaustausch und arbeiten an gemeinsamen Projekten. Dies gelingt momentan vor allem auf lokaler Ebene. Es gibt beispielsweise schon seit längerem einen Fachaustausch zwischen Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser der Bezirke Kreuzberg und Kadiköy. Im Juni wurde ein Künstleraustauschprojekt zwischen Mitte und Istanbul-Cihangir von Kulturvereinen realisiert. In solchen Projekten kann man voneinander lernen und tut das auch. I
Als Bürgermeister Klaus Wowereit kürzlich zur Jubiläumsfeier in Istanbul war, hat er trotzdem das alte Stereotyp wiederholt: Istanbul sei eine moderne Stadt, repräsentiere aber eben nun mal nicht die ganze Türkei. Und die türkischen Einwanderer in Berlin kämen nun mal nicht aus Istanbul. Ändert all die Kooperation nichts an dem Blick auf die Türkeistämmigen hier?
Mich machen solche Äußerungen sehr nachdenklich und wütend. Die Entwicklungen in Großstädten sind in Grundzügen doch überall gleich: Es findet Ausgrenzung statt, bestimmte Bevölkerungsgruppen werden wenig beteiligt. Natürlich lassen sich je nach Stand der demokratischen Entwicklung solche Prozesse leichter gestalten. Aber immer nur diese starre Sichtweise beizubehalten: Ja, es gibt in Istanbul libertäre, fortschrittliche Nischen, aber wir haben hier eben nur die zurückgebliebenen anatolischen Bauern gekriegt, das ist mies. Das ist immer noch so ein altertümlicher Blick auf Migration hier in der Stadt Berlin.
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