Regisseur Haneke über "Das weiße Band": "Liebe ist zu wenig"
Ein Gespräch mit Michael Haneke über repressive Erziehung und seinen Film "Das weiße Band".
taz: Herr Haneke, in Ihrem neuen Film "Das weiße Band" zeigen Sie zwei Welten, die der Kinder und die der Erwachsenen. Beide leben in einem Dorf auf engstem Raum zusammen, scheinen aber vollkommen voneinander getrennt zu sein. Warum?
Michael Haneke: So ist ja die Kindheit im Allgemeinen. Es ist ganz selten, dass es eine wirkliche Verbindung miteinander gibt. Natürlich haben Eltern und Kinder eine Beziehung, aber sobald Kinder unter sich sind, ist das eine Welt, in die Erwachsene keinen Zugang haben.
Mir ist beim Ansehen auch "Kinder des Zorns" in den Sinn gekommen.
Den kenne ich nicht. Von wann ist der?
Dieses Interview mit Michael Haneke und vieles andere mehr lesen Sie in der aktuellen sonntaz vom 10./11. Oktober - ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.
Das ist die Verfilmung eines Romans von Stephen King aus dem Jahr 1984. Der Film spielt ebenfalls in einer ländlichen Umgebung und innerhalb einer streng religiösen Gemeinschaft.
"Kinder des Zorns" klingt gut, das ist ein schöner Titel.
Schon in früheren Filmen, etwa in "Bennys Video" oder in "Funny Games", haben Sie den Verlust der Unschuld der Kindheit beschrieben.
Seit Freud ist ja allgemein bekannt, dass die Unschuld der Kinder eine relative Sache ist. Genauso wie in jedem Menschen steckt in jedem Kind eine große Portion Grausamkeit. Man muss sich ja nur ansehen, wie Kinder in einem Kindergarten miteinander umgehen. Die Unschuld der Kinder ist eine Projektion der Erwachsenen. In jedem Menschen ist alles angelegt, es hängt von den Umständen ab, was sich daraus entwickeln kann.
Etwa der Faschismus?
Das Beispiel des deutschen Faschismus ist natürlich das Naheliegendste, aber in dem Film geht es letztendlich darum, zu zeigen, unter welchen Bedingungen der Mensch bereit wird, Ideologien zu folgen. Und das ist er immer dort, wo es Unbehagen, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gibt. Da greift jeder den erstbesten Strohhalm, der ihm gereicht wird. Meistens sind das dann irgendwelche Ideen, die an sich gar nicht unschön sein müssen. Der Kommunismus etwa ist eine wunderschöne Idee. Aber sobald so eine Idee zur Ideologie wird, wird sie lebensgefährlich. So ist es mit allen Ideen. Man könnte den Film auch in ein arabisches Land von heute verlegen und zeigen, wie es zum islamistischen Terrorismus kommt. Der Film wäre dann ein völlig anderer, aber das Grundmodell bliebe gleich.
Und die Erziehung ist der Schlüssel?
Erziehung ist ein Menschheitsproblem, von Anfang an bis heute. Die Erziehungsmethoden, die der Film zeigt, die uns heute grausam und brutal vorkommen, waren damals die offiziell anerkannten. Der Pfarrer ist kein böser Mensch, er ist zutiefst überzeugt, dass er das Richtige tut. Liest man die Erziehungsliteratur aus dieser Zeit, kann man seine blauen Wunder erleben.
Also wäre das Problem heute überwunden, wenn wir auf nichtdisziplinäre Methoden setzen?
Nein. Ich stamme aus der 68er-Generation und viele meiner Bekannten haben ihren Nachwuchs antiautoritär erzogen. Die Kinder hatten, als sie ins Erwachsenenleben eintraten, ziemliche Schwierigkeiten. Wenn ich mir heute ansehe, dass die Lehrer Angst vor den Schülern haben, kann das nicht richtig sein. Ich habe kein Rezept, wie man es besser machen kann. Liebe ist immer gut, aber Liebe allein ist zu wenig. Auch der Pfarrer liebt seine Kinder.
In "Das weiße Band" ist von Liebe wenig die Rede, beinahe alle Beziehungen sind von latenter oder offener Gewalt bestimmt.
Man hängt mir als Regisseur immer das Etikett an, ich hätte eine Obsession mit Gewalt, ich würde ständig Gewalt zeigen. Was sicher nicht der Fall ist. In all meinen Filmen zusammen werden sie weniger sichtbare Gewaltakte finden als in einem beliebigen Fernsehkrimi. Erstens, weil ich es für obszön halte, so etwas zu zeigen. Zweitens, und das gilt überhaupt, werden alle Dinge, die in einem Film von Bedeutung sind, nach Möglichkeit ins Off gesetzt. Weil sie dann mit der Fantasie des Zuschauers spielen. Die Szene, in der die beiden Kinder geschlagen werden, ist dramaturgisch wesentlich effizienter dadurch, dass man nichts sieht, sondern nur die Schreie hört. Wenn die Kamera in das Zimmer hineingehen würde, wo der Junge den Hintern versohlt bekommt, wüsste ohnehin jeder, dass der Darsteller zuvor gut gepolstert wurde.
Die Kamera bleibt oft zurückhaltend oder distanziert. Manche Räume betritt sie nicht, manche Perspektiven versteckt sie vor uns, wie etwa den Körper der toten Frau des Bauern oder den Selbstmord des Bauern selbst.
Ich versuche immer, die Imagination zu aktivieren. Der Unterschied zwischen Kino und Literatur besteht ja vor allem darin, dass die Literatur die Bilder im Kopf des Lesers entstehen lässt. Während das Kino dem Zuschauer diese Bilder regelrecht stiehlt, weil es ihm vorgefertigte vorsetzt. Wenn der Film sich davon emanzipieren will, muss er dem Zuschauer mehr Freiheit geben - was die Aufgabe von jeder Kunst ist. Das tut Musik etwa in hohem Maß. Wie gebe ich dem Zuschauer die Möglichkeit, seine eigene Fantasie einzubringen? Entweder durch das Off, das heißt ich arbeite mit dem, was außerhalb des Bildrahmens stattfindet. Oder durch die dramaturgische Struktur, indem man die Fragen offen hält, so dass der Zuschauer sich selbst einbringen muss, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen.
Die offenen Fragen häufen sich. Der Film ist nicht nur ein historisches Drama, sondern enthält auch klassische Züge des Whodunnit.
Das Element der Spannung benutze ich in allen Filmen. Die Mittel und Tricks des Genres sind einfach der Klebstoff, an dem der Zuschauer kleben soll. Sonst werden die Filme didaktisch, und didaktische Filme sind furchtbar.
Der Film wurde auf Farbmaterial gedreht, aber auf Schwarzweiß umkopiert. Warum?
Das hat zwei Gründe: Erstens ist die Zeit um 1900 die historische Epoche, die im allgemeinen Bewusstsein mit Schwarzweiß konnotiert ist. Zum anderen bringt Schwarzweiß eine Distanzierung, eine Verfremdung mit sich. Schwarzweiß hat in diesem Fall die gleiche Funktion wie der Erzähler, der ja damit anhebt, dass er sagt: Ich weiß gar nicht, ob alles, was ich Ihnen erzählen werde, der Wahrheit entspricht. Sofort wird dieses ganze Artefakt, das wir zu sehen bekommen, auch als solches deklariert.
Die Bewohner des Dorfes leben in einem Dauerzyklus: Konfirmation, Ernte, Sommer, Herbst und Winter. Egal, was geschieht, die Leute sagen: "Darüber stürzt die Welt nicht ein." Dabei passieren grausige Dinge, nur kümmert sich keiner so richtig ernsthaft darum. Ist die Gemeinschaft so sehr auf Routine ausgerichtet, dass sie mit plötzlich eintretenden Ereignissen wie dem Ersten Weltkrieg nicht umgehen kann?
Der Krieg kommt einerseits plötzlich und andererseits nicht plötzlich. Der Lehrer sagt, irgendwer habe das Wort Krieg ausgesprochen, und dann geht das wie ein Lauffeuer herum. Und am Ende des Films, als die frisch Eingezogenen mit ihrem Büschel am Revers in der Kirche verabschiedet werden, sagt er: Alles würde nun anders werden, auch wenn man bis dahin der Überzeugung war, dass das eigene Leben ein gutes und gottgefälliges war. Gerade auf dem Land, und damals haben mehr als 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Land gelebt, war das feudale System, das schon über zig Jahrhunderte Bestand hatte, das einzig vorstellbare.
Diese Ungleichzeitigkeit ist eine Qualität des Films. Er ist historisch genau verortet, und dennoch hat man den Eindruck, an diesem Dorf ist die Zeit und der Fortschritt vorbeigegangen. Keiner spricht von Kommunismus oder Revolution, keiner stellt die Herrschaft des Barons in Frage.
Das Jahr 1914 ist der Zusammenbruch der jahrhundertealten europäischen Welt. Alles, was nachher kam, war eine Folge dieses Bruchs. Nietzsche hatte zwar schon ein paar Jahre davor bekannt gegeben, dass Gott tot ist. Aber diese Erkenntnis bekam erst dann eine allgemeine Breitenwirkung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen