: Isolation aufbrechen
Ein Stück Psychiatriegeschichte: In einem Wandsbeker Mietshaus der Gemeindepsychiatrie können Menschen mit seelischen Behinderungen selbst bestimmen, ob und von wem sie therapiert werden
von Kristina Allgöwer
Der Neubau in der Gustav-Adolf-Straße in Hamburg-Wandsbek sieht aus wie ein ganz normales Mietshaus: Jeder der 24 Bewohner hat sein Namensschild an Klingel und Briefkasten, einen Hamburger Standard-Mietvertrag und eine eigene Wohnung mit Küchenzeile und Badezimmer. Dennoch ist es ein ganz besonderes Haus. Hier wohnen Menschen, denen viele Vermieter nur ungern eine Wohnung geben würden: Menschen mit seelischen Behinderungen.
Selbstbestimmt leben
Mit dem Wandsbeker Mietshaus hat Rainer Hölzke Psychiatriegeschichte geschrieben. „Das Projekt ist einzigartig in Hamburg“, sagt der Geschäftsführer der Gemeindepsychiatrischen Dienste (GPD) Hamburg-Nordost, „und auf seine Art auch in ganz Deutschland.“ Die Bewohner, die noch bis vor wenigen Wochen im GPD-Heim „Wohnhaus Jüthornstraße“ lebten, sollen in der Gustav-Adolf-Straße laut Hölzke das „größtmögliche Maß an Selbstbestimmung“ erhalten. Wer Hilfe und Therapie benötigt, findet diese im ambulanten Dienstleistungszentrum der GPD direkt nebenan. Aber auch Mieter, die Betreuung von einem anderen Träger wünschen oder ganz auf fremde Hilfe verzichten wollen, sollen in dem Haus wohnen bleiben dürfen.
In Heimen seien die Bereiche Wohnen und Betreuung auf problematische Weise miteinander vermischt, sagt Hölzke. Wenn die Bewohner dort die Unterstützung des Personals nicht annehmen wollen, müssten sie das Heim verlassen. „Viele ersitzen sich deshalb in Therapiegruppen ihr Wohnrecht“, so der Psychologe. In herkömmliche Mietshäuser zu ziehen sei für Menschen mit einer starken seelischen Behinderung beinahe unmöglich. Bei einigen seien Tag- und Nachtrhythmus verschoben, andere kommunizierten lautstark im Treppenhaus mit Stimmen, die nur sie hören können. „Nachbarn sind da oft wenig tolerant“, weiß Hölzke.
Ins Leben integriert
Im Haus in der Gustav-Adolf-Straße gibt es deswegen keine Beschwerden. Die Wohnungen sind schallisoliert und jeder Bewohner kennt die Probleme des anderen. Blaue, gelbe und grüne Türrahmen sollen in den drei Etagen des Mietshauses Orientierung geben. Jede der 24 Einzimmerwohnungen ist etwa 30 Quadratmeter groß und kostet rund 200 Euro Kaltmiete pro Monat. Bei Bedarf erhalten die von der GPD betreuten Mieter Unterstützung im Haushalt, Mittagessen zum Selbstkostenpreis und werden zu Behörden und Ärzten begleitet.
Wichtig ist für Rainer Hölzke, dass die seelisch Behinderten nicht isoliert leben. Die Betreuer organisieren deshalb gemeinsame Café-Besuche, Spaziergänge an der Ostsee und Ausflüge zu den Heimspielen des FC St. Pauli. Zur Integration gehört laut Hölzke auch, dass das Mietshaus mitten in einem Wohngebiet steht, und nicht „auf der grünen Wiese“. Die Nachbarn aus den umliegenden Häusern hätten „erfreuliche Akzeptanz“ gezeigt.
Was Ausgrenzung bedeutet, hat Hölzke vor 25 Jahren während seiner Arbeit im Psychiatrischen Krankenhaus im schleswig-holsteinischen Rickling erfahren. Dorthin schickte die Stadt Hamburg bis 1995 jährlich bis zu 1.100 psychisch Kranke. „Das waren regelrechte Sammeltransporte“, erzählt Hölzke, „mit Leuten, die man in der Stadt nicht haben wollte.“ Er habe die Verzweiflung der Menschen gesehen, die nicht aus Hamburg wegwollten. Damals hat sich Rainer Hölzke geschworen, etwas gegen die Ausgrenzung zu tun. Einige der ehemaligen Patienten aus Rickling leben heute in dem Wandsbeker Mietshaus.
Informationen zu Unterstützungsangeboten und Begleitung für psychisch erkrankte Menschen in den Bezirken Hamburg-Nord und Wandsbek unter www.gpd-nordost.de
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