Ein Stück in fünf Akten: Westerwelle - der Verwandler
Guido Westerwelle war immer Angreifer. Als Außenminister geht das nicht. Um mehr zu sein als ein "Frühstücksminister", wird der FDP-Chef sich ändern müssen.
Stellen Sie sich bitte kurz vor, Sie wären Guido Westerwelle. Stellen Sie sich vor, Sie seien seit frühester Jugend auf ein Ziel ausgerichtet gewesen: Machtzuwachs für Sie und Ihre Partei. Nach Jahren, ja Jahrzehnten der durchgearbeiteten Nächte und zermürbenden Intrigen steht endlich Ihr Machtantritt an. Stellen Sie sich weiter vor, eine Ihrer verlässlichsten Waffen beim Aufstieg sei Ihr Talent zur schneidenden Rede gewesen. Und nun, da Sie am Ziel Ihrer Träume anlangen - da dürfen Sie nicht triumphieren. Im Gegenteil: Sie müssen Ihr Siegerglück niederzwingen. Und schweigen. Mindestens vier Jahre lang.
Leicht fällt Ihnen dieser Blickwechsel vermutlich nicht. Guido Westerwelle ist außerhalb der eigenen Klientel einer der unbeliebtesten Spitzenpolitiker Deutschlands. Das war er als FDP-Generalsekretär ab 1994, und das ist er geblieben als Parteivorsitzender. Das ist erstaunlich. In derselben Zeit hat sich das öffentliche Bild von Angela Merkel und Joschka Fischer radikal verändert. Kohls Mädchen ist zur eisernen Lady geworden. Amt und Öffentlichkeit machten aus dem einstigen Straßenkämpfer den beliebtesten Politiker im Land.
Und Westerwelle? Der blieb ohne den Amtsbonus der ewige Krawattenmann des Jahres. Chef der Partei der Besserverdienenden. Mann mit der 18 in der Schuhsohle. Immer auf Krawall gebürstet im Kampf gegen die linken Krawallmacher von einst. Und nun ist dieser Haudrauf Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. Wie soll das zusammengehen? Es kann funktionieren. Wenn der 47-Jährige bereit ist zur Wandlung. Es wäre die erste grundlegende Veränderung in Guido Westerwelles politischem Leben.
Hinter Westerwelles demonstrativer Unruhe gibt es eine große Sehnsucht nach Beständigkeit. Der Sohn zweier Anwälte wird Ende 1961 in Bad Honnef bei Bonn geboren. Nach der Scheidung der Eltern wächst er mit seinem jüngeren Bruder Kai beim Vater auf. Der schlaksige blonde Junge geht in Bonn zur Schule, studiert dort Jura, macht in der damaligen Hauptstadt seinen Doktor, arbeitet in der Kanzlei seines Vaters Heinrich. Und in Bonn schießt er schnell hoch bei den erst kurz zuvor gegründeten Jungen Liberalen. Bei der ausgedünnten Mutterpartei läuft es ähnlich rasant. Der nimmermüde Propagandist einer flexiblen Arbeitswelt verlässt seine rheinische Heimat erst notgedrungen, als sein Arbeitsplatz, der Bundestag, 1999 nach Berlin umzieht. Da ist er 37.
Von frühester Jugend an will Westerwelle auftrumpfen. In der Oberstufe muss Guido einmal eine Deutschklausur schreiben über Goethes Aufsatz "Noch ein Wort für junge Dichter". Sein Lehrer erklärte später, Westerwelle habe den Text vermutlich gar nicht verstanden, sich stattdessen "schnell eine Meinung gebildet und diese dann mit seinem ausgeprägten Mundwerk sehr selbstsicher vertreten". Jahrzehnte später wird diese Anekdote in einer Westerwelle-Biografie stehen. Bei deren Vorstellung wird der Porträtierte kokett behaupten, ihm seien derlei Buchdetails etwas peinlich. Das stimmt natürlich nicht. Dann würde er sie nicht erwähnen.
Westerwelle kontrolliert sein Selbstbild in jeder Minute seines öffentlichen Daseins. Und in den Monaten vor der Wahl hat er begonnen, sich vorzubereiten auf seine neue Rolle: Westerwelle der Staatsmann. Diese Verwandlung lässt sich als Theaterstück in fünf Akten erzählen. Ob es ein Drama oder eine Farce werden wird, entscheidet sich erst im Verlauf des letzten Aktes: im Amt.
Berlin, Anfang September 2009, im vierten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses. Westerwelles Gesicht wirkt älter als sonst, der Wahlkampf lässt ihm kaum Zeit für Schlaf. Er sitzt - wie immer bei Interviews im Konferenzraum der FDP-Fraktion - vor dem Fenster. Ein kleiner Trick. Hinter ihm sehen Besucher den monumentalen Reichstag, Schwarz-Rot-Gold flattert im Herbstwind. Westerwelle, der Staatsmann im Wartestand.
Für Grünen-Sympathisanten leistet er sich seinen Standardspruch: Diese wollten "zurück zur Natur, aber bitte mit Zweit- oder Drittwagen". Empörungsroutine. Wenn er sich verspricht, fängt er den ganzen Satz von vorne an. Am Ende des Gesprächs blickt er in die Ferne. Er lässt sich beim Formulieren von Sätzen zusehen, die neu für ihn sind: "Ich glaube, dass unsere Generation noch erleben wird, dass man lachend zurückschauen wird bei dem Gedanken, was für laute, stinkende Autos fuhren auf der Basis der Verbrennung von toten Tieren und vermodderten Pflanzen." Westerwelle der Visionär. Er übt noch.
Westerwelle übt seit 28 Jahren. So lange ist er schon in der Politik. Seither strebt er danach, perfekt zu sein. Worin, ist zweitrangig. Weil man ihm die Anstrengung ansieht, wirkt Westerwelle verkrampft. Musterschüler haben keine Fanclubs. Was für eine tiefe Unsicherheit muss dahinter wirken, und welch ein Stilisierungswille.
Es ist der 27. September 2009, Wahlabend. Rund 2.000 Anhänger haben sich in einem pompösen Palais in Berlin-Mitte versammelt, um den Mann zu feiern, dem sie ihren Wahlerfolg verdanken. Schöne Frauen in dezenten Kleidern, junge, lachende Männer mit blauen Hemden, Rufe nach "Guido, Guido". Spät steigt der Gerufene herab aus dem ersten Stock. Er hat Hans-Dietrich Genscher mitgebracht, das Mensch gewordene Symbol der Stabilität. Dessen Außenministerglanz soll auf ihn scheinen. Jetzt nur keinen Fehler machen. Keine Jubelpose, kein schrilles Wort. "Wir freuen uns, aber wir bleiben auf dem Teppich, wir heben nicht ab", sagt Westerwelle seinen Anhängern trocken. "Jetzt geht die Arbeit erst richtig los." Insbesondere für ihn.
Dieser Teil spielt am selben Ort , knapp 18 Stunden später. Auf einer Pressekonferenz muss der Sieger vor den Medien sprechen, ohne irgendetwas zu sagen. Der Wahlkampf hängt noch in seinen Gliedern. Seine Augen sind klein, er hat kaum geschlafen. Ein Reporter der BBC fragt arglos, ob er eine Frage auf Englisch stellen dürfe, und er bitte um eine Antwort auf Englisch. Westerwelle ist alarmiert. Tausende haben zu diesem Zeitpunkt bereits ein Youtube-Video gesehen, das ihn zeigt, wie er eine Journalistenfrage in holprigem Englisch beantwortete. Der Mann auf dem Podium fühlt sich vorgeführt: Auf so einen Patzer haben die Journalisten vor ihm, die ihn nie gemocht haben, doch nur gewartet. Dann folgt seine berühmt gewordene, patzige Antwort: "Das ist Deutschland hier." Westerwelle zuckt zusammen. Er merkt, was sein Hang zur Attacke angerichtet hat. Außenminister dürfen nicht angreifen. Aber es ist zu spät. Die Generalprobe seines Stücks "Die Wandlung" ist gründlich schiefgegangen.
4. Akt: Letzte Sammlung
Ort des 4. Akts ist der FDP-Parteitag Mitte Oktober in Berlin. Ein retardierendes Moment, das durch eine Kunstpause die Spannung erhöht. Hier, im Hangar 2 des ehemaligen Flughafens Tempelhof, darf Westerwelle noch einmal den Angreifer geben. Er reißt sich zusammen. Brust raus, Lächeln an. Wegen einer schweren Erkältung hat er zwischendurch die Koalitionsverhandlungen verlassen müssen. Trotzdem ist seine Stimme fest, als er vor die gut gelaunten Delegierten tritt. Alles sei glänzend für die FDP gelaufen bei den Verhandlungen, Steuersenkungen inklusive. "Und wer das als kalte Politik bezeichnet, dem ist in seiner Hirnverbranntheit nicht mehr zu helfen." Ein knackiges Zitat für die Medien, extra eingebaut in seine Standardrede. Jetzt tuscheln selbst einige Delegierte: War das nicht etwas zu heftig?
Hinter den Delegierten steht ein Mann Ende 30. Heller Anzug, aufmerksamer Blick. Majid Sattar hört der Rede zu. Sattar ist Autor der ersten Westerwelle-Biografie. Kann er sich vorstellen, dass der Berufsangreifer zum Chefdiplomaten wird? "Der Apparat wird auch den Außenminister Westerwelle formen", sagt Sattar. "Bisher hat noch kein Amtsinhaber die Außenpolitik revolutioniert, selbst die Ostpolitik wurde vom Bundeskanzler, nicht vom Außenminister Brandt entworfen." Wird Westerwelle seine Amtszeit also gar nicht prägen? "Doch, das glaube ich schon. Mag sein, dass er einige Wochen in seinem neuen Amt fremdelt, er wird aber seine Rolle finden." Im Hintergrund brandet Applaus auf für den Immer-noch-Wahlkämpfer.
5. Akt: Entscheidung
Nun also beginnt es. Westerwelle ist seit Mittwoch im Amt. Am Donnerstag ist er mit der Kanzlerin zu seinem Ministerdebüt zum Brüsseler EU-Gipfel aufgebrochen. Ausgerechnet Angela Merkel. Westerwelles neue Chefin hat alles hergerichtet, um dem FDP-Mann ja keine Möglichkeit zu inhaltlicher Profilierung zu geben: Merkel hat die Außenpolitik in den vergangenen vier Jahren straff vom Kanzleramt aus geführt. In der EU-Kommission in Brüssel hat sie den wirtschaftsfreundlichen Günther Oettinger platziert. Und CSU-Strahlemann Karl-Theodor zu Guttenberg wird als Verteidigungminister konservative Wähler ansprechen. Zeitungskommentatoren verhöhnen den neuen Außenamtschef bereits als "Minister für Frühstück".
Zumindest Popularität könnte Westerwelle, der Ungeliebte, erringen. Selbst Klaus Kinkel, der farblose Ministerialbeamte aus Schwaben, brachte es nicht fertig, dass die Deutschen ihn als Außenminister ablehnten. Aber wird Westerwelle, der außenpolitische Neuling, nicht bloß ein beliebter Minister, sondern auch ein guter?
Goethes Schrift, die der selbstgewisse Oberstüfler Guido einst bloß oberflog, war eine Art Arbeitsanweisung für junge Dichter. Sie lässt sich auch als Aufruf verstehen an den Propagandisten eines diffusen Selbstverwirklichungsglaubens, sich zu befragen: Kann ich, was ich will? Am Ende schreibt Goethe: "Sich frei zu erklären ist eine große Anmaßung; denn man erklärt zugleich, dass man sich selbst beherrschen wolle, und wer vermag das?"
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