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Kommentar BildungsprotesteVon Eltern und Studenten

Kommentar von Christian Füller

Es ist eine deutsche Eigenart, sich in romantische Konzepte zu flüchten – und das undemokratische Bildungssystem real nicht anzutasten.

B ildung rockt Deutschland. In den Uni-Städten gehen Zehntausende Studierende gegen den Bachelor auf die Straße. In Hamburg unterschreiben sagenhafte 180.000 Bürger gegen die Schulreform. Haben die Bewegungen etwas miteinander zu tun?

Ja, es gibt eine unbequeme Gemeinsamkeit. Denn sowohl die wohlhabenden Eltern als auch die Studierenden ("Reiche Eltern für alle") verfolgen nicht nur rationale Ziele. Sie wenden sich nämlich gegen Reformen, die längst überfällig sind: Reformen, die mit Bildungskonzepten des 19. Jahrhunderts aufräumen. Der Bachelor verabschiedet sich von der Vorstellung, dass alle, die an die Uni gehen, Professor werden wollten oder sollten. Daher ist es richtig, das Studium zu portionieren und studierbar zu machen.

Die Hamburger Schulreform will mit der Tradition brechen, dass es schon in der frühen Bildungskarriere ein Oben und ein Unten geben soll. Ab der vierten Klasse Kinder zu trennen, ist ein deutscher Sonderweg. Er widerspricht der Offenheit jedes Kindes für Entwicklungsprozesse. Daher ist es richtig, die Grundschulzeit auf sechs Jahre zu verlängern, so wie es bereits 1919 (!) geplant war.

privat

Christian Füller ist Bildungsredakteur der taz.

Das Problem ist, dass beide Reformen zu spät kommen. Die Proteste sind daher Ausdruck einer echten Bildungskrise. Es geht ja tatsächlich drunter und drüber an den Unis. Und auch die Schulreform an der Elbe verunsichert Menschen.

Die Protestierer aber operieren mit einem hochfahrenden Bildungsbegriff, der noch von Humboldt stammt. Er lautet: Bildung muss zweckfrei sein und ausschließlich der Persönlichkeitsentwicklung dienen. Es ist eine deutsche Eigenart, sich in romantische Konzepte zu flüchten - und das undemokratische Bildungssystem real nicht anzutasten.

Mit einer solchen Flucht in die Eigentlichkeit ist es diesmal nicht getan. Die Unis müssen geöffnet werden für breitere Schichten - da kommt ein studierbarer Bachelor gerade recht. Also sollten jetzt sofort Runde Tische an den Hochschulen entstehen, die - zusammen mit den Studis! - die Studiengänge entschlacken.

Anders bei den Hamburger Eltern, die gegen die sechsjährige Grundschule kämpfen: Für sie sollte man keine runden Tische einrichten. Man muss sie aufklären. Man muss ihnen zeigen, dass ihre Kinder selbstverständlich bis zur sechsten Klasse (und länger) gemeinsam lernen können, ohne Schaden zu nehmen - im Gegenteil.

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8 Kommentare

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  • K
    Klingelhella

    Lieber Hr. Füller,

     

    wer als Lösung des Problems der Bologna-Reform ernsthaft vorschlägt, dass an "runden Tischen" gemeinsam "Studiengänge entschlackt" werden sollen, zeigt vor allem eines: dass er nicht richtig zugehört hat. Der von Ihnen benannte Ansatz ist so undifferenziert wie nutzlos -- nicht mehr ein schlichtes Buzzword-Bingo aus dem VHS-Kurs "Management für Anfänger Teil I".

     

    Die Begründung hierfür ist ebefalls fadenscheinig: als Ewiggestrige, Romantisierer etc. werden die Betroffenen hier dargestellt und somit ihre Forderungen ohne inhaltliche Auseinandersetzung diffamiert. Zudem ist es ausgemachter Unsinn, dass alle Magister- oder

    Diplomstudierenden Professor werden wollten oder sollten -- über Diplom / Promotion / Habilitierung war das Studium für diesen Weg vor Bologna sowieso schon portioniert.

     

    Ich wünsche mir von Ihnen und von der taz eine differenzierte Betrachtung und Darstellung der Zusammenhänge; für INSM-Propaganda kann ich auch gern auf andere Zeitungen zurückgreifen.

  • C
    CeTe

    Das Thema des Kommentars könnte auch lauten:

     

    "Linker Selbsthass oder wie schaffe ich die taz ab!"

     

    Wie man weiß, lebt die taz von einer umfassend interessierten Leserschaft (man könnte auch sagen, einer gebildeten Leserschaft),die sich ihre Bildungserfahrungen überwiegend nicht in "entschlackten Bachelorkursen", sondern z.B. in Universitäten alten Stils oder auch im Leben erworben hat, wo es darum ging, Überblick nicht nur über kleine Bereiche, sondern auch Zusammenhänge zu erlangen. Das andere nannten wir einmal "Fachidiotentum", und das war etwas, was keiner von uns anstreben wollte. Heute empfiehlt der selbst mutmaßlich universitär üppig vorgebildete Christian Füller den jungen taz-Lesern, sich mit Weniger zu bescheiden. Damit es nicht allzu weh tut, dürfen sie dann mitentscheiden, beim Entschlacken. Wenn sie aber mehr verlangen vom Lernen und auch vom Leben, dann dürfen sie sich als verstiegende Idealisten verspotten lassen.

     

    Wie die taz in Zukunft ihre Leser gewinnen will, wer vermag es zu sagen. Ob dies aber dann die streng verschulten und eingeschüchterten Absolventen der Bachelorlehrgänge sein werden, denen man den Hunger nach mehr Wissen ausgetrieben hat, darf bezweifelt werden.

  • G
    Gerhardt

    Der Artikel ist nun absoluter Unsinn, Bologna und Bachelor helfen niemandem, sie führen nur zur Transformation einer Universität in eine Berufsfachschule.

     

    In der TAZ schreibt man für die Schule, ohne weiteres auf die Uni anwendbar, in dem Artikel "Paradigmawechsel an Schule gefordert - Auf Trauma folgt Aggression" http://www.taz.de/1/zukunft/wissen/artikel/1/%5Cdie-antwort-auf-trauma-ist-aggression%5C :

     

    "Die Zukunft gehört Menschen, die flexibel denken, Konflikte lösen und im Team arbeiten können: kreativ, selbständig und interaktiv. Mit sozialer und emotionaler Kompetenz. Das ist das neue Wissen. Es ist auch ein Aspekt der Demokratisierung. In Amerika nennt man das die 21 Century Skills. Das sind Fähigkeiten, die bei Pisa nicht gemessen werden, aber wahnsinnig wichtig sind. Das sind auch die Fähigkeiten, die von den Wirtschaftseliten eingefordert werden. Sie sagen, wir bekommen nicht die Leute, die wir brauchen. Eine Intelligenzökonomie braucht eine andere Form von Lernen.

    ...

    Ganz kurz: kreativer Umgang und flexible Lösungen von Problemen, Anpassungsfähigkeit an neue Situationen, die Fähigkeit, sich auf andere und auf neue Funktionen in Lerngruppen zu beziehen, autonomes Denken."

     

    Und genau das wird den Schülern und Studenten heute gründlich ausgetrieben.

     

    Wir brauchen intelligente und verantwortungsbewusste Menschen und keine modularisierten kurzsichtigen Psychopaten, Bologna führt nur in die geistige Unmündigkeit.

  • S
    Student

    Was ist verkehrt an Humboldt ???

  • H
    hades

    Mir ist nicht ganz klar, inwiefern die Einführung von Bachelor und Master das Studieren für breitere Schichten öffnen? Fakt ist doch, dass Studierende des neuen Systems einstimmig berichten, dass aufgrund des hohen Verschulungsgrades bspw. ein Nebenjob zur Finanzierung praktisch nicht mehr ausgeübt werden kann. Das trifft nur diejenigen, die finanziell darauf angewiesen sind, d.h. deren Eltern das Studium ihrer Kinder nicht aus der Haushaltskasse bestreiten können. Das Argument es gäbe doch Bafög lässt sich leicht damit abschmettern, dass nach wie vor - auch nach Einführung der Studiengebühren - in vielen Studiengängen die Zustände so katastrophal sind, dass ein Einhalten der Regelstudienzeit schlichtweg formal nicht möglich ist. Demnach zementiert und fördert doch das Bachelor/Master-System nur die seit jeher starke soziale Ungerechtigkeit im deutschen Hochschulsystem.

     

    Und was soll der Hinweis auf die irrige Vorstellung bedeuten, alle Studierenden wollten Professor werden? Ist es nach Meinung des Autors als Fortschritt zu werden, wenn geringere Anforderungen gestellt werden, und damit die Qualität der Absolventen sinkt? Bezieht sich also das "Öffnen für breitere Schichten" nicht auf den Geldbeutel sondern auf die geistige Befähigung? Ich denke, die Qualität des deutschen (Diplom)Studiums zu reduzieren ist sicher kein löbliches Merkmal des Bologna-Prozesses.

     

    Qualität hoch, soziale Ungerechtigkeit runter. Das Bachelor/Master-System bewirkt genau das Gegenteil.

  • DL
    Dr. Ludwig Paul Häußner

    Gemeinsam lernen bis Klasse 12 - seit 90 Jahren!

     

    ---------------------------------

     

    An den 1919, nach den Wirren der Novemberrevolution und zu Beginn der Weimarer Republik, gegründeten Freien Waldorfschulen wird seither nicht nur Koeduktion praktiziert, sondern auch ein gemeinsames Lernen von Klasse 1 - 12. Nach zwölf gemeinsamen Schuljahren verlassen die Jugendlichen die Schule mit den staatlichen Abschlüssen Mittlere Reife, Fachhochschulreife oder (durch eine 13. - zusätzliche - Klasse) Abitur und z.B. an der Hibernia Schule sogar mit einer Berufsausbildung.

     

    Ermöglicht wurde die erste Freie Waldorfschule in Stuttgart durch einen SPD Kultusminister!

     

    Und auch Willi Brandt sah die Bedeutung dieser "Einheitlichen Volks- und Höheren Schule":

     

     

    "The advent of Waldorf schools in the world was, in my opinion, the greatest contribution to world peace und unterstanding in this century."

     

    Quelle: http://www.vws.ca/2005/Images/quote_home%20copy.jpg

     

    Insofern sind sechs gemeinsame Schuljahre in den Hamburger Primarschule das Mindestmögliche.

     

     

    Dr. Ludwig Paul Häußner, Karlsruhe

    www.unternimm-die-schule.de

  • CG
    Christian Grune

    interessante Gedanken, einziger Widerspruch: Humboldt Idee einer zweckfreien Bildung ist nicht romantisch - v. Hentig hat diesen Anspruch übersetzt in unsere Zeit in der Laborschule Bielefeld, u.a. mit 10 jähriger gemeinsamer Schulzeit, auf die ein Oberstufen-Kolleg aufsetzt. Das wäre ein anschlussfähiger Beitrag zur Aufklärung der Hamburger Eltern!.

  • K
    Konsul

    Die gemeinsame Schulzeit bis zur siebten Klasse ist bei weitem nicht genug und trotzdem nicht der richtige Weg. Die Trennung der Schüler nach der sechsten Klasse ist ungünstig, da eine neue Klassengemeinschaft in diesem Alter nicht sinnvoll ist (Pubertät, neue Lehrer, neue Freunde etc.). Es ist fast zu befürchten dass dieses Projekt auf lange sicht eher schädlich für das Projekt zehn jahre gemeinsam lernen ist, was ich sehr befürworte.