Evakuierung: Bombenalarm in Lehrte
9.500 Menschen mussten am Sonntag das Zentrum der Kleinstadt verlassen. Im Untergrund waren zwei Fliegerbomben geortet worden. Eine Expedition in die Welt der Einsatzzentralen und Suppenküchen.
Als Sonntagmorgen um neun Uhr der letzte Zug in den Bahnhof rollt, ist Lehrte schon eine Geisterstadt. Durch das Schneetreiben gleiten ein paar PKWs, die fluchtartig das Weite suchen, an der Bushaltestelle ordert ein Mann ein Ruftaxi. Busse? "Fahren nicht mehr. Sehn se zu dass se hier wegmachen". Unter dem Stadtzentrum hat man zwei Fliegerbomben geortet. Der Kampfmittelbeseitigungsdienst ist unterwegs. Genau wie 9.500 Lehrter Bürger.
Organisiert wird der Exodus im Ortsteil Aligse, fünf Kilometer entfernt von der Gefahrenzone. Die taz ist mit dem Rentnerpaar W. vorgefahren. Sie haben den Reporter netterweise am Straßenrand aufgelesen. Herr W. kann sich gut an die Kriegsnacht im Sommer 1944 erinnern, als die Amerikaner zentnerweise Tod bringendes Metall auf die Gleise regnen ließen. "Die haben sich gebogen wie Sicheln." Jetzt holt Herr W. erst mal Brötchen von der Tankstelle und "nervt Kinder und Enkel, bis der Spuk vorbei ist".
Auch in der Einsatzleitstelle wird gefrühstückt. "Der Schnee bringt den Zeitplan ein bisschen durcheinander", sagt Daniel Ulrich und beißt in eine Käsesemmel. Ulrich ist Pressemann der Freiwilligen Feuerwehr Lehrte und hält mit den Kollegen von Polizei und Deutschem Roten Kreuz (DRK) das Lagezentrum besetzt. Während der Notfallmanager der Deutschen Bahn per Handy den Zugverkehr lahmlegt, hat Ulrich Zeit für Grundsätzliches. "Früher war vom Räumen ja keine Rede." Wenn da eine Bombe entschärft wurde, "hieß es nur: Fenster auf, wegen dem Druckausgleich. Ging auch."
Heute nicht mehr. Heute ist so eine Räumung eine generalstabsmäßig geplante Angelegenheit. Und das Wichtigste dabei ist das genaue Lagebild. Um ihm ein solches zu verschaffen, wird der Reporter zu Uwe Kurmeyer ins Auto gesetzt. Kurmeyer, seines Zeichens Notfallseelsorger, Kleinverleger und DRK-Fotograf, lenkt seinen Transporter souverän durch die Schneewehen des Sperrgebietes, vorbei an Polizei- und Feuerwehrposten, die jede Kreuzung sichern. Mit an Bord ist Feuerwehrmann Rolf Kobbe. Er will zum "Orient-Grill", da soll es brennen. Wie sich später herausstellt, hat der Imbissbesitzer lediglich seinen Lehmofen zu offensiv angeheizt. "Na ja, der Köfte", brummt Kobbe, "aber kochen kann er." Weiter geht es zum Krankenhaus. Die Intensivstation wurde schon am Samstag ins benachbarte Großburgwedel evakuiert, jetzt wirkt alles verlassen. Vor der Tür lauern noch die Kollegen von Bild auf Sensationen. "Da ist nüscht mehr zu holen", weiß Profi Kurmeyer und biegt links ab Richtung Schulzentrum.
Hier landen alle, die keinen Unterschlupf bei Verwandten gefunden haben oder sich kein Hotel leisten können. Um elf Uhr drängen sich rund 350 Menschen in den Klassenzimmern. Sie sitzen auf Holzbänken und stühlen und fügen sich gelassen in das Unvermeidliche, was ihnen aber auch nicht schwer gemacht wird. Es gibt eine Krankenstation, Kinderzimmer mit jeder Menge Spielzeug, zwei separate Räume für Hund und Herrchen, so wie Ausschankstationen für Tee und Kaffee. "Mittags servieren wir eine erstklassige Kartoffelsuppe", freut sich Rot-Kreuz-Helfer Achim Rüter. "Ich wäre für Erbsensuppe gewesen, die hat sich bewährt", krittelt Kurmeyer, als er den taz-Reporter durch die drei Biwakzelte führt.
Es riecht trotzdem appetitanregend, wie man überhaupt den 400 Helfern Respekt zollen muss, die sich den Sonntag ohne Vergütung um die Ohren schlagen. Die Helfer bleiben auch gelassen, als zu allem Überfluss am nahen Autobahnkreuz Hannover-Ost ein polnischer Reisebus in Brand gerät und die weitgehend unverletzten Insassen im Schulzentrum versorgt werden müssen. "Halt wieder eine neue Lage", raunt Kurmeyer, der alles für das DRK-Archiv ablichten muss.
Zurück im Lagezentrum ist die Gefahr größtenteils gebannt. Ein leere Kassettenbombe wurde schon geborgen, die zweite, ein 150 Kilo schweres Geschoss, soll um 13 Uhr auf einem Acker gesprengt werden. Eine Stunde später können alle in ihre Häuser zurück.
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