Kolumne Das Schlagloch: Bürger ohne Sinn

Wenn die FDP versucht, ihrer Politik höhere Weihen zu verleihen, wird es lustig.

Ende Dezember wurde das Christkind geboren, Anfang Januar - wenn man den Zeitungen glauben darf - ein neuer Politikstar. Politikstar. Bis eben hätte ein solches Wort Warnung bedeutet, heute meint es erlöste Zustimmung. Sein Name: Christian Lindner, neuer FDP-Generalsekretär. Seine Rede, die selbst gestandene politische Korrespondenten in die Knie zwang, entfaltete das Konzept des "mitfühlenden Liberalismus".

"Mitfühlender Liberalismus." Vielleicht ist es kennzeichnend für die Geisteslage unserer Zeit, dass man heute statt "ultimativer Hirnerweichung" auch "Geburt eines Politikstars" sagen kann. Bereits das Wort "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" legte sich schwer auf die Jahresendseele. Das ist mentaler Hausfriedensbruch, geistiger Streichelzoo.

Vielleicht ist das Schlimmste an Schwarz-Gelb gar nicht, was sie tun, sondern dass sie es auch noch begründen wollen? Liberale, die selbst nicht mehr wissen, dass die Freiheit das Gegenteil eines Wellnessprogramms ist, sind ein schlechtes Zeichen.

ist freie Autorin und lebt in Berlin. Sie schrieb unter anderem eine Biografie über Else Lasker-Schüler, "Mein Herz - Niemandem" (Propyläen Verlag).

Die Freiheit ist eine der schwersten Zumutungen, gerade darum ist der liberale Geist etwas ganz und gar Unverzichtbares. Er ist ein Ferment. Der Anspruch dieses Ferments auf Gestaltung des Ganzen ist immer problematisch. Freiheitskräfte gehen ins Offene, Ungesicherte; Bindekräfte sind sie nie. Die Freiheit ist kalt. "Mitfühlender Liberalismus" also. Ist es eigentlich mit geistiger Selbstachtung vereinbar, in der FDP zu sein?

Bereits die "soziale Marktwirtschaft" - welch unerhörte Wortnachbarschaft für 19.-Jahrhundert-Ohren - war ein gewagtes Konzept, dabei von betonter Nüchternheit. Lindner hätte sie wohl "mitfühlende Marktwirtschaft" genannt. Ohne die Katastrophe des Weltkriegs hinter und dem Kommunismus neben sich hätte sie wohl kaum eine Chance gehabt.

Natürlich ist es eine böse Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Sozialdemokratie den Sozialstaat der alten Bundesrepublik zu Grabe trug. Nur darf man bei Strafe geistigen Lindnertums solche Dinge nicht moralisch beurteilen. Es war an der Zeit. Und die Zeit fand Gerhard Schröder vor. Sie fand auch Oskar Lafontaine vor, der die Stirn besaß zu sagen: Nicht mit mir! Das hatte Größe, die ihm flächendeckend als Zwergentum ausgelegt wurde. Jeder Politiker ist ein Technokrat der Macht, und man muss schon starke Gründe haben, sie in dem Augenblick nicht zu gebrauchen, da man sie in der Hand hält. Schröder fand sein Bild, Arm in Arm mit der Macht, zu umwerfend, um sich nicht alles zuzutrauen. Das machte einen Teil seines nicht unerheblichen Charmes aus. Aber im Kern war die Sache wohl auch ihm klar: Die alten sozialen Absicherungen waren unter der Voraussetzung geschaffen worden, dass Vollbeschäftigung möglich ist. Nun, da sich abzeichnete, dass sie nie wieder erreicht würde, musste die Risikogruppe weitgehend in ihr eigenes Risiko entlassen werden.

Wir leben im Agenda-Zieljahr 2010. Schröder hielt seine zukunftsfrohe Rede am 14. März 2003. Gibt es etwas Traurigeres als eine eingetretene Zukunft? Manche sprechen schon von der "Hartz-IV-Republik" oder der "Hartz-IV-Gesellschaft" - nicht weil wir bald alle "hartzen" müssen, sondern weil der Klimawandel nicht nur auf der Erde stattfindet, sondern auch in Gesellschaften und Seelen. Bloß sind es da keine Erwärmungen, sondern Abkühlungen, ja Kälteeinbrüche. Sätze wie "Willst du nicht mal diese Hartz-IV-Mütze abnehmen?" sind inzwischen selbstverständlicher Teil einer ästhetischen Alltagskritik, und es ließe sich an dieser Stelle durchaus eine Betrachtung über den Zusammenhang von Witz und gesellschaftlicher Kälte am Beispiel Englands des 19. Jahrhunderts anschließen.

Humor ist zuerst und zuletzt Notwehr. Schwer zu sagen, ob Schröder an seine Hartz-IV-Rhetorik selbst geglaubt hat: "Fordern und fördern!", "Aktivierung der Langzeitarbeitslosen"? Immerhin konnte er diese Zynismen vortragen, ohne den bleibenden Eindruck zu erwecken, selbst ein Zyniker zu sein. Vielleicht besteht der Unterschied zu den Politikern von heute vor allem darin, dass sie zu solchen Raffinessen der Selbstverbergung gar nicht mehr fähig sind. Es ist zu befürchten, dass Lindner glaubt, was er sagt. Die Zuversichtlichen werden darin eine Erhöhung der Glaubwürdigkeit erblicken. Aber noch ist das Phänomen des Parallelwachstums von Glaubwürdigkeit und Einfalt nur unzureichend geklärt.

Vielleicht ist es doch besser, wenn die Politiker neuen Typs sich wieder auf das beschränken, was die Zeit aus ihnen gemacht hat: Technokraten der Macht, persongewordene Schnittmengen politischer Kalküle. Die Kanzlerin geht mit Anstand und Bescheidenheit voraus. Bisher fand das durchaus Anerkennung, erst jetzt werden die Rufe nach der Sinnstifterin Merkel laut. Weil man das Sinnstiften nicht allein Westerwelle und Lindner überlassen will? Weil "eine bürgerliche Mehrheit" doch irgendeinen Sinn haben muss.

Die Neoliberalen pünktlich nach dem Untergang des Neoliberalismus zu wählen war schon eine beachtliche Leistung unseres Volkes. Gut, reden wir von der bürgerlichen Mehrheit. Aber was, wenn der "Bürger" nur noch eine Erinnerung ist? Schließlich war auch Schröders Sinnstiftung der Agenda 2010 keine genuine Schöpfung des Geistes der Sozialdemokratie. Wo ist der Bürger geblieben? Im Begriff des Staatsbürgers ist sein emanzipatorischer Anspruch allgemein gesetzt, seinen kulturellen Anspruch hat er teils eingelöst, teils geht er mit den Resten des Bildungsbürgertums unter. Und um Eigentum und Macht kümmert sich längst nicht mehr der Typus des Bürgers, sondern der des Managers, des Technokraten, möglichst anonym, möglichst unbelangbar.

Vielleicht besteht das Betriebsgeheimnis der Kommerzgesellschaft auch darin, dass sie nur so lange optimal funktioniert, solange es genügend Anteile des Unveräußerlichen in ihr gibt. Gegeben hat. Von Mischungen haben die Liberalen noch nie viel verstanden. Der Mensch als sich selbst steigerndes Wesen ist ihnen vertraut, einen anderen kennen sie nicht.

Der Außenminister hat die "geistig-politische Wende" angekündigt. Vielleicht wird das, wenn schon kein erfolgreiches, so doch noch ein ganz unterhaltsames Jahr 2010.

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