Datschensiedlung in Moskau: Häuserkampf gegen die Bürger

Mehr als 50 Jahre hatte die Siedlung Retschnik Bestand. Jetzt wird sie geschleift - wohl weil sie auf wertvollem Bauland steht. Die Bulldozer kamen nachts bei klirrendem Frost.

"Wir sind ein belagerter Ort und Menschen ohne Rechte", meint eine ältere Bewohnerin. Bild: ap

Fingerdicke Eiskristalle überdecken die am Ortsschild festgefrorene Ikone der wundertätigen Mutter Gottes. Sie soll nicht nur die grimmige Kälte vertreiben, in diesem Winter muss sie auch noch die Einwohner von Retschnik vor Vertreibung bewahren. Die Datschensiedlung Retschnik ist eine ländliche Idylle mitten im Moloch der Metropole. Eine Siedlung von 200 Häusern am nördlichen Ufer der Moskwa, die dem Vorrücken der Wohnburgen lange Einhalt gebot. Dutzende Hektar feinstes Bauland.

Bis Januar war der "Binnenschiffer" (Retschnik) ein gottverlassener Ort, unweit der alten Olympiasiedlung Krylatskoje, den nur Eingeweihte anliefen. Inzwischen kennt ganz Russland die Kirsch- und Apfelgärten der Datschniki. In der Nacht zum 21. Januar gegen 3 Uhr ging es los, erzählt Ludmila Gaiduk. "Miliz und Gerichtsvollzieher rückten mit Bulldozern an und rissen die ersten Häuser ein. Bei klirrendem Frost von minus 23 Grad", sagt die stellvertretende Vorsitzende des Bürgerkomitees, die nervös an einer Zigarette zieht. "Die Leute wurden einfach auf die Straße gesetzt." Die Stadtverwaltung ist der Auffassung, dass die Retschniki illegale Häuser auf Grundstücken errichtet haben, die ihnen nicht gehörten. Dem Rollkommando voran marschierte der Chef des Bezirks, Witali Nikitin. "Er und seine Leute trugen blütenweiße Filzstiefel. Macht wollten sie demonstrieren", meint Gaiduk.

Ruhig schlafen konnten die Datschniki schon lange nicht mehr. Vor drei Jahren begann Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow mit einer willfährigen Justiz im Schlepptau, die Siedler mürbe zu machen. Erst kappte die Stadt die Strom-, später die Wasserversorgung. Ohne Erfolg, die Retschniki ließen sich nicht entmutigen. Sie stellten Stromgeneratoren auf und bohrten Brunnen. Inzwischen müssen sie auch eine Polizeisperre passieren, wenn sie mit dem Auto die zwei Kilometer von der Hauptstraße über den verschneiten Knüppelweg ins Dorf fahren wollen. "Wir sind ein belagerter Ort und Menschen ohne Rechte", meint eine ältere Frau, die sich im provisorischen Pressezentrum an einem Bollerofen aufwärmt. Nicht einmal Krankenwagen lasse die Miliz noch durch. "Unsere Familie lebt seit 50 Jahren hier, und jetzt sind wir illegale Landbesetzer", schluchzt sie.

Gerichte wurden angerufen, auf Entscheidungen folgten Gegenentscheide. Der Justizstreit vernebelt indes nur, worum es tatsächlich geht: um das Recht der Stärkeren. Ursprünglich verwaltete das staatliche Unternehmen Moskwa-Kanal, das in den 1930er-Jahren eine Verbindung zur Wolga ausschachten ließ, den Grund und Boden. Zwanzig Jahre später vergab der Kanalbetreiber an Mitarbeiter Grundstücke zur "unbefristeten Nutzung". Der Vertrag zwischen Moskau-Kanal und der Kleingärtnergenossenschaft datiert vom 15. Februar 1957. Pawel Mossolow hat alles akribisch dokumentiert. Der 58-jährige Atomphysiker erbte das Grundstück mit Haus von der Mutter. Die Physik hängte er vor einigen Jahren an den Nagel. Die Obstzucht, mit der er sich seitdem beschäftigt, reiche ihm zum Leben, sagt er. Aus dem Aktenberg vor ihm kramt er noch eine Verfügung von 1974 hervor, die den Bau eines kleinen Hauses mit Schuppen erlaubt. "Fast alle hier haben ähnliche Papiere", sagt er. Natürlich seien die Häuser mit den Jahren ausgebaut worden. Niemand habe daran vorher jemals Anstoß genommen. Die meisten Datschen in der lang gezogenen Gartensiedlung sind Holzbauten, schmuck, aber nicht perfekt; hier und da ist der gute Wille eines Hobbyhandwerkers nicht zu übersehen.

"Noch kein Gerichtsentscheid" ist auf einige Eingangstore in weißer Farbe gesprüht. Der Hinweis soll Gerichtsvollzieher vom Zugriff abhalten. Dmitri Beskurnikow half das nichts. Das Räumkommando uniformierter Gerichtsvollzieher mit schwarzen Schutzhelmen stand plötzlich vor der Tür. "Sie kamen ohne Abrissbescheid", erzählt der Autoschlosser, der Bescheid liege bei der Stadtverwaltung, zur Einsicht. "Als ich zurückkam, stand nichts mehr." Der Nachbarin erging es ähnlich. Ihr Haus wurde geschleift, dann stellte sich heraus, dass die Vollstrecker sich in der Hausnummer geirrt hatten. Auch das kommt vor.

Die Retschniki sind nicht reich, aber auch nicht arm. Sie gehören zu der schmächtigen Mittelschicht, die in den Jahren des Ölbooms entstand. In Retschnik stehen keine Prunkbauten oder protzigen Villen wie in der Nachbarsiedlung, der "Insel der Fantasie", die einen Steinwurf entfernt hinter der Mauer eines Golfplatzes liegt. Die Insel wurde 2006 wie Retschnik von der Stadt dem Terrain eines geplanten Naturparks zugeschlagen. "Kaufen Sie sich ab 2,5 Millionen Dollar ein Stück Paradies, vom Aussterben bedrohte Tiere inbegriffen", wirbt ein Immobilienhändler. Auf der fantastischen Insel residiert Industrieminister Wiktor Christenko mit Gattin Tatjana Golikowa, der Gesundheitsministerin. Honoratioren und Senatoren, ein Sohn des Bürgermeisters und allerhand verdiente Geheimdienstkader zählen zu den Nachbarn. Ihren Häusern droht die Abrissbirne nicht, obwohl auch sie in einem Naturreservat wohnen.

Vom ersten Stock des Hauses, in dem Waleri mit seiner Familie lebte, ist die abgeschirmte Insel gut zu sehen. Der Himmel strahlt über der glatten Wasserfläche, die glänzende Schneedecke des Golfplatzes blendet. "Die Insulaner wollen Zugang zu unserem Strand", sagt Waleri, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte. Der ehemalige Hubschrauberpilot wartet jeden Tag auf den Abriss. Schräg gegenüber macht sich ein Bagger noch an den hartnäckigen Resten eines Fundaments zu schaffen, überwacht von einem Gerichtsvollzieher. Teilnahmslos schlendern ein paar Milizionäre durch die Schneelandschaft. Bald liegen hier nur noch Trümmer. Waleri hat die teureren Möbel abtransportiert, in der beengten Stadtwohnung reicht der Platz nicht für mehr. Er ist den Tränen nahe. Das Haus war alles, was sich die Familie aufgebaut hatte. Doch mit dem Abriss nicht genug: Die Stadt drückt den Betroffenen auch noch die Kosten für die Abbrucharbeiten aufs Auge - zigtausend Euro. "Das Geld habe ich nicht", sagt er resigniert. Bis vor Kurzem habe er die politischen Verhältnisse im Land noch verteidigt. "So schlimm sei es nicht, langsam würde es vorwärtsgehen, dachte ich."

Auch jetzt ist Waleri vorsichtig. Dass Premier Wladimir Putin und Präsident Dmitri Medwedjew zu Hilfe eilen, gar ein Machtwort sprechen, glaubt er indes nicht mehr. Am Ortseingang hängt noch das Transparent "Präsident Medwedjew, wir sind mit Ihnen". Vor Kurzem hatte der Kremlchef nämlich die Verlängerung der sogenannten Datschen-Amnestie bis 2015 verfügt. Den Datschniki machte das Mut. Nach dem Gesetz können langfristige Pachten ab 15 Jahren privatisiert und ins Grundbuch eingetragen werden. In der Sowjetunion war das nicht möglich, weil die Verfassung Privatbesitz an Grund und Boden untersagte. Wer es in den ersten Jahren nach dem Fall des Kommunismus versäumte, darf das nachholen. Das ist leichter gesagt als getan, weil die Bürokratie das Gesetz umgeht. Millionen Russen befinden sich in ähnlicher Lage. Die Beamtenschaft hält die Bürger bewusst im Ungewissen. Das garantiert regelmäßiges Schmiergeld und sichert den Zugriff auf die lukrativeren Landstücke. Pawel Molossow nahm sich vor drei Jahren einen Anwalt. "Bis heute hat der nichts erreichen können", meint er.

Von den juristischen Spitzfindigkeiten will Philipp Zyglakow gar nichts wissen. Der 91-jährige Kriegsveteran wohnt seit mehr als 50 Jahren hier. Djed (Großvater) Fjodor nennen sie den vitalen Alten in Steppjacke und Filzwalenki, der sich auf einen dicken Holzknüppel stützt, um nicht auszurutschen. Den Gefallen wolle er dem Bürgermeister nicht tun, lacht er. Zyglakow ist so etwas wie der Dorfchronist. "Früher war das nur Schwemmsand hier, den man den Arbeitern aufdrängen musste; sie sollten weniger saufen und mehr arbeiten", lacht der ehemalige Rüstungsingenieur. "Ich hab den Mutterboden eimerweise angeschleppt, jetzt soll mir das nicht mir gehören?" Zyglakow argumentiert wie John Locke, der englische Begründer liberaler Eigentumstheorie. Fügt ein freier Mensch einem unbebauten Stück Land durch eigener Hände Arbeit Wert hinzu, so erwirkt er ein natürliches Besitzrecht. Das lässt Russlands Bürokratenklasse so nicht durchgehen, denn sie betrachtet das ganze Land nebst Menschen als ihr Eigentum, und das nun schon seit Jahrhunderten. In Retschnik bündeln sich die Fehlentwicklungen der Ära Putin wie in einem Brennglas. Recht existiere nur als Instrument gegen wehrlose Bürger, Eigentumsschutz genieße nur, wer der unersättlichen Bürokratie zu Diensten sei; der Staat habe nicht nur seine Funktion als Verwalter von Gemeininteresse verwirkt, er erkläre den Bürger gar zum Feind; bald werde es nur noch Superreiche und Bettelarme geben, hatte Waleri räsoniert. Oder Operettenfürsten und Lumpenproletarier.

An diesem Nachmittag kommt jedoch noch einmal Hoffnung auf. Arkadi Mamontow trifft ein. Wo der Journalist des Staatsfernsehens auftaucht, führt der Kreml Größeres, meist Grobes im Schilde. Zwei Wochen verschwieg der Propagandasender das Thema. Gerüchte machen die Runde, der Kreml wolle die rufschädigende Geschichte nutzen, um sich endlich des ungeliebten Moskauer Bürgermeisters zu entledigen. Wo Mächtige sich schlagen, könnte das Fußvolk mit Blessuren davonkommen. "Nur so ein Gedanke, mehr nicht", meint Atomphysiker Pawel, der davon überzeugt ist, dass zumindest der Segen des Priesters, der die Ikone am Ortseingang weihte, in Erfüllung geht: "Möge, wer später hierherzieht, seines Lebens nicht mehr froh werden."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.