piwik no script img

Ausstellung über Erinnerung an den HolocaustIdentität ist eine Ente

Interessiert sich die 3. Generation noch für den Holocaust? Dieser Frage geht die Ausstellung "Memo Raising" nach - nervenaufreibende Diskussionen inklusive.

Ein Werk der Künstlerin Annton Beate Schmidt Bild: aus der Ausstellung

Trudy Dahan trägt eine Ente auf dem Kopf. Das weiße Federtier verdeckt ihr schwarzes Haar, atmen muss sie unter Wasser durch einen Schlauch. Oberhalb der Wasseroberfläche ist nur die Ente zu sehen - der Rest der Frau ist unsichtbar. Für Trudy Dahan ist die Ente ihre jüdisch-israelische Identität. Von außen übergestülpt, verdeckend, einengend. "Meine Eltern wollten immer superisraelisch sein", erzählt sie. "Sie weinten vor Glück, als ich zur Armee ging." Jetzt lebt Dahan in Berlin und lässt sich filmen - mit Ente auf dem Kopf im See schwimmend. "Ich will Identitäten freilegen, die älter sind als meine israelische", sagt die 24-Jährige, deren Eltern aus der Schweiz und Marokko nach Israel übergesiedelt sind.

Trudy Dahans Entenvideo ist Teil eines ungewöhnlichen Ausstellungsprojekts. "Memo Raising" verhandelt die Frage, welche Rolle der Holocaust für KünstlerInnen der sogenannten dritten Generation spielt. Initiiert wurde das Projekt von StipendiatInnen der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" (EVZ), die ein Jahr in Berlin über Erinnerungskultur forschen. Die Stipendiaten luden acht junge KünstlerInnen dazu ein, mit ihnen der Frage nachzugehen: "Was machen die Zeitzeugen der Zeitzeugen der Zeitzeugen?" In zahlreichen Workshops entstand ein interaktiver Erinnerungsparcours, der am heutigen Freitag im Freien Museum in Schöneberg eröffnet.

Im Hinterhaus einer alten Fabrik sehen BesucherInnen Trudy Dahan beim Ringen mit ihrer Identität zu. Nebenan können sie sich bei Maryna Markova aus der Ukraine ihre Lebenslinie messen lassen. Die auf der Handinnenfläche gemessene Zahl wird den Lebenslinienbesitzern groß ans Revers geheftet. Derart gekennzeichnet können sie ein paar Schritte weiter im Kaufmannsladen der Berliner Künstlerin Annton Beate Schmidt einen "Toleranzlutscher" erstehen oder ihr Porträt in das Memoryspiel von Florian Siegert einbringen.

Ansatz und Form der bei "Memo Raising" gezeigten Arbeiten sind ebenso unterschiedlich wie die Hintergründe und Motive der teilnehmenden KünstlerInnen: Während sich die 27-jährige UdK-Studentin Maryna Markowa nach eigenen Angaben schon länger künstlerisch mit Erinnerungskultur auseinandersetzt, arbeitet die 42-jährige deutsche Täterenkelin Annton Beate Schmidt auch ein verdrängtes Kapitel ihrer eigenen Familiengeschichte auf.

Allen gemeinsam ist das Interesse an einer neuen Betrachtungsweise von Nazidiktatur, Krieg und Vertreibung. Kann man den Holocaust auch ohne die üblichen Schreckensbilder thematisieren? Wie erinnert man sich an etwas, das man nicht selbst erlebt hat? "Wir wollen nicht politisch, sondern soziologisch an das Thema herangehen", versucht Florian Siegert die Positionen zusammenzufassen. Und erntet sogleich Widerspruch von Trudy Dahan, die findet, dass das Nachdenken über jüdische Identität immer politisch sei.

Man ahnt, wie viele harte Diskussionen der Ausstellungseröffnung vorangegangen sein müssen. Konzept und Aufbau wurden zusammen mit den StipendiatInnen basisdemokratisch erarbeitet - schließlich gehört es zum Selbstverständnis des 2009 eröffneten Freien Museums, den KünstlerInnen keinen Kurator an die Seite zu stellen. Dass die maximale Freiheit auch kommunikativen Mehraufwand bedeutet, merkt man den erschöpften KünstlerInnen vor der Eröffnung an.

Ob die interaktive Ausstellung ein Erfolg wird, hänge von den Besuchern ab, meint Schmidt: "Wir wünschen uns, dass sich bei uns die Erfahrungen verschiedener Generationen verbinden." Von denen, die dabeiwaren und sich nicht erinnern konnten und wollten; denen, die sich nicht schon wieder erinnern wollten; und denen, die sagen: "Ja, daran könnte ich mich erinnern."

Auch die vierte Generation taucht auf - in einer Arbeit von Gregory Desarzens. Zu seinem Wissen über Nazis befragt, sagt dort ein Berliner Grundschüler: Die seien schwarz angezogen und jedes Jahr am 1. Mai auf der Straße unterwegs.

"Memo Raising": Vernissage: Freitag, 22.5.10, ab 19 Uhr, die Ausstellung ist vom 22. bis 29. Mai zu sehen im Freien Museum, Potsdamer Straße 91, Berlin, Eintritt frei

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!