Recht auf Selbstverteidigung: Startschuss für die Waffenlobby
Keine Regierungsebene darf das Grundrecht, Waffen zu besitzen, einschränken, urteilen die höchsten Richter der USA. Lobbyisten im ganzen Land werden das nun einklagen.
WASHINGTON taz | Ein "großer Tag in der amerikanischen Geschichte", sagt Wayne LaPierre. Der Herr im eleganten Designeranzug, Vizepräsident der mächtigen National Rifle Association (NRA), zu der mehr als 4 Millionen SchusswaffenfreundInnen gehören, kommentiert die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes. Mit fünf gegen vier Stimmen haben die obersten RichterInnen am Montag in Washington das Recht auf Waffenbesitz auf die gesamten USA ausgedehnt. Sie nennen es ein "Grundrecht", das durch keine Regierungsebene eingeschränkt werden dürfe.
Die neun RichterInnen haben sich vier Monate Zeit genommen, um zu klären, ob die Waffenbeschränkungen, die in der Stadt Chicago seit mehr als zwei Jahrzehnten gelten, verfassungskonform sind. Am Montag haben sie die kommunale Entscheidung für ungültig erklärt. Das Recht auf Waffenbesitz sei, so das neunköpfige Gericht, ein "zentraler Bestandteil" des Rechts auf Selbstverteidigung. Zwar hat das Gericht die unterschiedlichen Regelungen in den Bundesstaaten über den Erwerb und Besitz von Schusswaffen nicht gekippt. Doch voraussichtlich wird das Urteil jetzt eine Lawine von ähnlichen Klagen von der Waffenlobby quer durch die USA auslösen. Die Klagen dafür liegen bereits fertig in den Schubladen.
In den USA, wo - Kinder und Alte mitgerechnet - 300 Millionen Menschen leben, sind rund 283 Millionen Schusswaffen in Umlauf. Aber in den einzelnen Bundesstaaten gelten unterschiedliche Regelungen. In 44 Bundesstaaten steht das Recht auf Schusswaffen in der Verfassung. In nur 19 Staaten müssen sich WaffenkäuferInnen einer Untersuchung ihrer geistigen Gesundheit unterziehen. In sieben Bundesstaaten (Kalifornien, Connecticut, Massachusetts, New Jersey, New York, Hawaii und Maryland) sowie im District of Columbia (DC), in dem sich die Hauptstadt Washington befindet, gelten Sperren für den Waffenverkauf.
In den vier Monaten, während denen das Verfassungsgericht seine Entscheidung beraten hat, sind in den USA rund 10.000 Menschen erschossen worden, hat die waffenkritische Bürgerinitiative "Brady Campaign" ausgerechnet. Manche kamen durch fremde Gewalt zu Tode, andere durch Selbstmord, wieder andere bei Unfällen. Die Brady-Campaign zählt täglich 300 Schusswaffentote in den USA, darunter 67 Kinder. Auf einen Schusswaffentoten kommen - das erhöht die Opferbilanz dramatisch - mehr als zwei Schusswaffenverletzte.
Im selben Zeitraum intensivierten sich auch die öffentlichen Auftritte der WaffenfreundInnen. Sie beschränkten sich nicht mehr wie in den Vorjahren auf die Spitzen ihrer traditionellen Organisationen wie die mächtige NRA, sondern wählten auch den Weg von mehr Straßenagitation und mehr politischer Propaganda.
Die WaffenfreundInnen sind stark innerhalb der rechten Oppositionsbewegung "Tea-Party" vertreten, wo sie zu demselben radikalen Flügel wie die "LebensschützerInnen" gehören, die gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch kämpfen.
Als Hauptargument benutzen die WaffenfreundInnen einen Verfassungszusatz aus dem Jahr 1791. Das "Second Amendment", garantiert ihnen die "Freiheit" und das "Recht auf Selbstverteidigung". Sie berufen sich auf Ereignisse aus der frühen US-Geschichte - darunter den Unabhängigkeitskrieg und den Bürgerkrieg -, um Gegenwartspolitik zu machen. Die staatlichen BeschützerInnen in Uniform betrachten sie eher als Last denn als Garantie.
Paradoxerweise haben sich in den Monaten seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama die Gewichte zugunsten der weit rechts stehenden WaffenfreundInnen verschoben. Unter anderem stimmte die Regierung dem Waffentragen in Nationalparks zu. Gleichzeitig veranstalteten WaffenfreundInnen an immer mehr Orten kleine Versammlungen, um ihr "Recht" zu demonstrieren. Unter anderem trafen sie sich in Cafés der Kette "Starbucks", um darauf zu bestehen, dass sie ihre Waffen auch im Inneren der Lokale tragen dürfen. Die Leitung des Unternehmens stimmte ihnen zu und erklärte im vergangenen Frühling, wo die bundesstaatliche Regelung das Schusswaffentragen erlaube, sei dies auch in ihren Cafés gestattet.
Die Folgen der neuen verfassungsrichterlichen Entscheidung - die Frage, ob sie langfristig zu noch mehr Waffenbesitz oder zu einer stärkeren staatlichen Kontrolle führen wird - sind dennoch umstritten. So zeigt zum Beispiel der Fall von Washington DC, dass das "Recht auf Schusswaffen" nicht unbedingt zu einer stärkeren Präsenz von Schusswaffen führt. Schon vor zwei Jahren hatte nämlich das Oberste Gericht den Schusswaffenbesitz zu einem "individuellen Grundrecht" gemacht.
In Washington DC, wo damals eine Waffenregelung eingeführt werden musste, die allerdings von rigorosen Kontrollen begleitet ist, sind seither "nur" 800 zusätzliche legale WaffenbesitzerInnen registriert worden. Die als "besonders gefährlich" geltenden WaffenbesitzerInnen - darunter Gangmitglieder - zählen nicht dazu. Sie beziehen ihre Waffen illegal. Und die WaffenfreundInnen benutzen gerade sie als zentrales Argument, um ihre eigene legale, private Aufrüstung zu rechtfertigen.
Kritik an der richterlichen Entscheidung ist nicht nur von liberalen US-AmerikanerInnen und von den Vereinigungen der Opfer von Schusswaffengewalt zu erwarten, sondern auch von dem südlichen Nachbarland. Aus Mexiko haben sich die Behörden mehrfach darüber beschwert, dass die Schusswaffen, mit denen die Drogenmafia im eigenen Land mordet, ganz legal in den USA eingekauft und dann - illegal - über die Südgrenze gebracht werden.
Die US-amerikanischen WaffenfreundInnen hingegen können jetzt feiern. Sie gehen davon aus, dass sie ein Stück mehr "Freiheit" erobert haben. NRA-Vize Wayne LaPierre verspricht, dass er weiterhin "wachsam" bleibt: "Damit dieser Verfassungserfolg auch in praktische Politik umgesetzt wird. Und jeder einzelne Bürger tatsächlich eine Waffe kaufen und halten darf."
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