Vergewaltigungsprozess: Das angebliche Opfer schweigt
Nach Vorwürfen der Tochter wurden ihr Vater und ein weiterer Mann wegen vergewaltigung zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Nun rollt das Landgericht Lüneburg den Fall neu auf.
Der Richter am Landgericht Lüneburg versucht Ralf W. ein wenig zu bremsen, aber da springt sein Anwalt Johann Schwenn direkt dazwischen. Sein Mandant müsse so ausführlich wie er wolle über das Unrecht sprechen dürfen, das ihm das Landgericht Hannover und die dortige Staatsanwaltschaft angetan hätten: über die fünf Jahre, die er in Haft verbracht hat. Vier waren es bei seinem Mitangeklagten Karl-Heinz W. Dessen Tochter Jennifer W. hat die beiden Männer beschuldigt, sie als 15-Jährige mehrfach vergewaltigt zu haben. Das Landgericht Hannover hat sie zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch nun hat Anwalt Schwenn eines der seltenen Wiederaufnahmeverfahren erreicht und das Landgericht muss entscheiden, ob man in Hannover ein fatales Fehlurteil gesprochen hat - oder nicht.
Es ist eine schwierige Materie und der Prozess wird nicht dadurch erleichtert, dass Jennifer W., die Nebenklägerin ist, die Aussage verweigert. Gleiches gilt für ihren Vater. Karl-Heinz W. ist ein kleiner zerknittert wirkender Mann im Anzug, auf seiner Wange eine lange Narbe. Die Vorwürfe gegen ihn seien falsch, sagt er zu Beginn, gleiches sagt Ralf W. Er spricht vom "kranken Hirn" der Jennifer W. Er verstehe die Emotionen, sagt der Richter, aber der Angeklagte solle doch auf solche Formulierungen verzichten.
Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens sind einerseits Fehler im Sachverständigengutachten über Jennifer W.. Darin wurden mögliche Symptome einer Borderline-Störung festgestellt, dies aber nicht als Einschränkung ihrer Zeugenschaft gewertet. Zum anderen hatte Jennifer W. angegeben, ihr Vater habe sie als Kind an einen Missbrauchsring in Hannover gegeben. Die von ihr namentlich genannten Personen konnten jedoch nicht ermittelt werden; Karl-Heinz W. wurde in diesem Verfahren freigesprochen.
Nun geht es in der Wiederaufnahme, die ein völlig neues Verfahren bedeutet, vor allem um die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin. Und die Frage, wie die vom Gericht bestellten Gutachter sich ein Bild machen sollen, wenn Jennifer W. nicht aussagt. Als Zeugen geladen sind nun Beteiligte des ersten Verfahrens, unter anderem die Lehrerin, der sie sich zum ersten Mal anvertraute und die Großmutter.
An diesem ersten Tag sagt nur Ralf W. aus. Seine Eltern waren eng mit den Großeltern von Jennifer W. befreundet. Er will sie nur dreimal als Babysitterin für seine Kinder und einmal im Urlaub erlebt haben. Ob er sich erklären könne, warum sie die Vorwürfe gegen ihn erhoben habe, fragt der Richter. Nein, sagt Ralf W. "Darüber habe ich die ganze Zeit nachgedacht". Und dann versucht er doch eine Erklärung: Vielleicht habe sich Jennifer W. in ihn verliebt. Oder sie sei neidisch auf seine glückliche Familie gewesen. Ein geregeltes Familienleben habe sie nicht gekannt. Der Vater sei kaum zu Hause gewesen und Jennifers jüngerer Bruder habe auf ihn auffallend liebebedürftig gewirkt.
Jennifer W. sagt vor Gericht nichts mehr, seitdem sie die Aussage über den mutmaßlichen Kindermissbrauchsring gemacht hat. Anwalt Schwenn riss das dazu hin, von "besonderer Verschlagenheit" zu sprechen, da sie einerseits die Wahrheitsfindung verhindere, andererseits als Nebenklägerin auftrete. Das wollte der Richter so nicht stehen lassen. Woraufhin Schwenn präzisierte: "Für mich ist die Nebenklägerin Opfer ihres Umfelds". Hauptschuldige seien die Staatsanwaltschaft und das Landgericht Hannover.
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