die wahrheit: Neues aus Neuseeland
Trauma keinem mit Trauma.
Ich erinnere mich noch an eine Ladenkette in den USA, die dem Kunden versprach: "Wenn wir Sie nicht mit einem Lächeln begrüßen, bekommen Sie zehn Dollar von uns." Super. Bring die Kassiererin zum Weinen, und dir winkt vielleicht ein Hunni.
Im Land der langen weißen Flauschwolke sind wir auf dem Service-Sektor noch nicht ganz so weit, aber umso liebenswürdiger. "Wie gehts", fragt der Neuseeländer zur Begrüßung, und die korrekte Antwort darauf lautet "Bestens, danke!" anstatt einer Erörterung der momentanen Befindlichkeit. Die will niemand hören, denn sie könnte das Gegenüber überfordern oder gar negativ klingen. Und das wäre unhöflich.
Mit diesen Umgangsformen kann ich prima leben. Auch dass jede Verkäuferin, egal ob im Supermarkt oder vom Telemarketing, mir als Erstes das hohle "Und wie war Ihr Tag so?" entgegenflötet. Man bricht sich keinen Zacken aus der Krone, "Ganz wunderbar!" zurückzusäuseln, auch wenn man gerade von einer Beerdigung kommt. Und siehe da: Schon sieht der angegraute Tag dank der kleinen Heuchelei um eine Nuance rosiger aus. Es lebe die Floskel.
Seit zwei Wochen gibt es eine neue Variante: "Und wie ist Ihr Haus so?" Was dem Amerikaner sein Nineeleven, ist dem Bewohner Christchurchs sein 4. September. Vor drei Wochen bebte bei uns die Erde so stark wie in Haiti, aber mit dem kleinen Unterschied zur Karibik und zu New York: keine Toten, kein Elend, kein Hunger, kein Terror. Nur viel Bauschutt und schlaflose Nächte - die Unruhe, die Nachbeben. Dennoch Drama allerorten, denn wer ist nicht gern mal in ausgedehnter Katastrophenstimmung? Es gibt kein anderes Thema mehr als "The Big E". Alle, alle sind erschüttert, vor allem seelisch.
Ja, wir haben was durchgemacht. Das war mir die ersten Tage gar nicht so klar, aber ich ahnte es spätestens, als ich Tag für Tag in der Zeitung die blutrote Grafik der Nachbeben sah, unter der flammenden Zeile "Das haben Sie durchlebt": 4,3; 3,6; 5,3. Auf der Richter-Skala. Spätestens da fühlte ich mich als Opfer. Und Opfer müssen reden, reden, reden. Sie müssen immer wieder daran erinnert werden, dass sie das, was sie erlebt haben, bloß nicht zu leicht nehmen dürfen. Dass sie ein Recht darauf haben, sich mies zu fühlen, auch wenn das vielleicht in erster Linie daran liegt, dass alle über nichts anderes mehr reden.
Die wenigsten haben so gelitten wie die Familie in Kaiapoi, deren Haus in der Mitte entzweibrach, als sich darunter ein Riss in der Erde auftat, in dem man nun einen Weinkeller unterbringen könnte. Dem häuslichen Inferno zu entkommen, während die Wände einstürzen, Glas splittert und Kinder schreien, hinterlässt sicher Kratzer auf der Seele. Aber der glückliche Rest soll sich mal nicht so anstellen. 2,4 Millionen Dollar hat Neuseelands Regierung rausgerückt, um Therapeuten aus anderen Städten einzufliegen. Selbst aus Australien rückten zehn Trauma-Beauftragte der Heilsarmee an.
Halleluja. Schickt sie zurück, liebe Dauerbetroffene, und grüßt mich bitte wieder so belanglos wie früher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen