piwik no script img

Taz-Serie Schillerkiez: Die KulturZarte Pflänzchen im toten Winkel

Beim Festival "Nacht und Nebel" präsentiert sich Nordneukölln als hipper Kulturstandort. Auch im Schillerkiez gibt es ein paar Galerien - die internationale Partyszene kommt hier noch nicht vorbei.

Inszenierte Räume in Nordneukölln: „Room with a View“ von Steffen Kasperavicius im Schillerpalais Bild: nachtundnebel

Gegen halb acht Uhr abends wirkt die Weisestraße verschlafen. Im spärlichen Licht der Straßenlaternen tragen die Bewohner des Schillerkiezes ihre Einkäufe und Kinder nach Hause. Fast nichts deutet darauf hin, dass an diesem Samstagabend das Nordneuköllner Kunstevent "Nacht und Nebel" stattfindet. Mehr als 150 Ausstellungen, Theatervorstellungen, Lesungen und Partys, die Besucher werden von Großraumtaxis von einer Attraktion zur nächsten chauffiert. Im Schillerkiez aber halten sich die Besuchermassen in Grenzen. Man muss das mitgebrachte Programmheft konsultieren, um die Kulturglanzpunkte im Halbdunkel zu finden.

Vor der Weisestraße 59 drängt sich ein Grüppchen Schaulustiger mit Kinderwägen und Hunden auf dem Trottoir. Drinnen, im neonerleuchteten Ladenlokal des internationalen Künstlerkollektivs Kanal, tanzt ein Mann allein zu Technoklängen. Laut Ankündigung an der Tür wird er das 24 Stunden lang tun. Nonstop, vor Publikum. Angefeuert wird der Tänzer, der seit bereits anderthalb Stunden die Beine schwingt, von ein paar jungen Frauen und Männern mit Pappbechern in der Hand. Die Feier eines "sample of a contemporary ritual" wird draußen mit Schulterzucken quittiert. Internationale urbane Kunst wirkt im Schillerkiez noch wie ein Fremdkörper - obwohl sich die Kanal-Leute durch Gespräche und die Teilnahme an Anwohnerversammlungen um Kiezanbindung bemühen. Die hat hier nur, wer sich seit Jahren für die einst als kulturfern geltende Ecke engagiert.

So wie Reinhard Lange, der um die Ecke in der Selchower Straße eine kleine Galerie mit Werbeagentur betreibt. Im "präsenz werk" trifft sich die kleine Szene derer, die hier zwischen Bierpinten und Sozialläden die Fahne der Kultur hochhalten. Lange - Brille, ergrauter Pferdeschwanz - steht mit dem Künstler Hans Wallner vor dessen Berlin-Bildern und sieht zufrieden aus. Die Kräne am Osthafen und das Oberbaumeck in Öl verkaufen sich gut. Der halbe Kiez schaut kurz rein: der Wirt der Kulturkneipe Froschkönig, Nachbarn und Mitstreiter aus dem Quartiersrat, dem Lange seit Jahren angehört. Der Mann, der 2005 aus Hamburg hierherkam, will etwas bewegen. "Seit der Öffnung des Tempelhofer Felds hat sich vieles getan", sagt er. Es gebe frische Impulse von Zugezogenen und eine bessere Vernetzung unter den aktiven Bürgern. Allerdings habe der neue Park im Rücken des Kiezes auch Immobilienspekulanten angezogen. "Einige Vermieter haben plötzlich jedes Maß verloren", sagt er. "Jedes zweite Wort in den Wohnungsanzeigen war plötzlich Luxus." Zum Glück seien die Miethaie auf vermeintlichen "Premiumobjekten" sitzen geblieben. Auch wenn immer mehr Studierende und Künstler zuziehen - die Bevölkerungsstruktur "mit ihren vielen, fest integrierten Ausländern" werde sich nicht so einfach austauschen lassen wie in Prenzlauer Berg, da ist Lange sicher. "Mich tauscht hier niemand aus!", ruft eine junge Frau, die mitgehört hat. Das wiederum amüsiert zwei ältere Herren in teuren Mänteln, die mit dem "Nacht-und-Nebel-Programm" in der Hand die nächste Station anpeilen.

taz-Serie Schillerkiez

Zwischen Flughafen Tempelhof und Hermannstraße liegt der Schillerkiez. Bislang galt das Viertel am Rande des Flugfelds als Armeleutegegend. Menschen aus vielen Nationen leben hier, mehr als 40 Prozent sind arbeitslos, der Kiez hat die höchste Bevölkerungsdichte von Neukölln.

Doch spätestens seit der Stilllegung des Flughafens 2008 ist aus dem innerstädtischen Viertel ein Quartier mit Potenzial für Investoren geworden. Seit Anfang Mai ist die 386 Hektar große Freifläche ein Park; es sollen Gewerbebetriebe entstehen und neue Wohnquartiere für die obere Mittelschicht.

Droht dem Schillerkiez nun also eine Welle von Aufwertung und Mietsteigerungen, wie sie weite Teile von Prenzlauer Berg und Kreuzberg bereits erlebt haben? Sind die Studierenden und Künstler, die seit einiger Zeit ins Viertel strömen, Vorboten einer Entwicklung, die in Friedrichshain und Mitte schon an ihrem Ende angekommen ist? Wird das einstige Arbeiterviertel gentrifiziert - oder wird es bei ein paar Townhouses am Parkrand bleiben?

Sicher ist nur eins: Der Schillerkiez wird sich verändern. Wer davon wie stark profitiert, wird man sehen. Die taz wird diese Veränderungen in den nächsten Jahren beobachten. Das Projekt läuft seit Mai 2010.

Lange empfiehlt den beiden Schillerkiez-Entdeckern das "Institut für Kunstzerstörung", das wenige Meter weiter an diesem Abend eröffnet. Der Initiator heißt Michael Betzner-Brandt: Der Dozent der Universität der Künste, der vor fünf Jahren samt Familie ins Viertel zog, ist zu einem der aktivsten Kulturmacher geworden, hat einen Seniorenchor gegründet und tritt im "Froschkönig" als Stummfilmpianist auf. Bei "Nacht und Nebel" ist Betzner-Brandt gleich zweifach vertreten: mit der Galerie, in der die Besucher im Abschiednehmen von Kunstobjekten geschult werden. Wer bewahren wolle, müsse kaufen - Übriggebliebenes werde vor den Augen des Publikums zerstört. Sein zweites Projekt ist der Neuköllner Chor "Mosaik aus Stimmen", der die Genezareth-Kirche mit polyphonem Gesang erfüllt.

Der Nacht-und Nebel-Abend plätschert ruhig dahin. Obwohl schon einige Künstler und Studenten zugezogen sind, sind sie noch nicht zahlreich genug, um der Gegend ihren Stempel aufzudrücken. Die Entwicklungsspirale, die aus einem ärmlichen Wohnviertel ein In-Viertel mit Szenegastronomie und überteuerten Mietpreisen macht, steht hier noch ganz am Anfang. Und erinnert daran, dass "die Kreativen" nur in Massen Wegbereiter der Gentrifizierung sind. In Maßen sind sie eine Bereicherung.

In der Kirche und dem veranstaltenden Schillerpalais ist es voll, auch in der Kiezgalerie "Turbulenzen" am Herrfurthplatz drängen sich Besucher, um eine fiktive archäologische Bestandsaufnahme von Neukölln "nach der Jahrtausendflut" zu betrachten. Doch nur ein paar Schritte abseits der zentralen Schillerpromenade wird es einsam. Keine Spur von Großraumtaxis oder Besucherhorden. In der Galerie Brennan in der Lichtenrader Straße verlieren sich der Galerist und zwei Frauen zwischen Acrylbildern und Häppchen. Marina Koch, die einer Freundin laut "Stille Nacht" vorsingt, ist nicht nur Sängerin, sondern auch Hausmeisterin, Maklerin und Hobbygaleristin. Im Fenster nebenan hat sie ein Ensemble aus "schlafenden Dingen von Neukölln" zusammengestellt, die sie auf dem Gehsteig fand: eine Stehlampe, einen Commodore-Computer, eine goldglänzende Tempelstatue. Hinter den Dingen schläft sie selbst. Die wechselnden Ausstellungen müssen zur Atmosphäre ihrer Wohnung passen, sagt sie. Ende November will sie eine Ausstellung mit Senioren aus dem Kiez machen - dank ihrer Hausmeistertätigkeit kenne sie viele interessante Menschen.

Der Weg vom verschlafenen Ende der Lichtenrader Straße zurück auf die belebtere Weisestraße ist einsam. Ein Gast torkelt aus dem Brummschädel, eine Gruppe Jugendlicher macht sich auf den Weg zum Promenaden-Spielplatz. Im Selchower Eck und der linken Kneipe Syndikat wird getrunken wie an jedem anderen Samstagabend. Der Tänzer im Kanal tanzt immer noch, begleitet von wenigen Fans.

Wenige Gehminuten weiter in der Flughafenstraße mischen sich bereits Halbwelt und Kunstszene: Die Besucher des Staalplaat-Projektraums teilen sich den Bürgersteig mit Betreibern des umliegenden Puff-Casino-Cocktailbar-Konglomerats. Während auf der Straße die Lederjacken und Kampfhunde patroullieren, sucht eine Künstlerin im Hinterhof nach dem "Gold von Neukölln".

Aber noch ist der Glanz der internationalen Partyszene nicht bis in den Schillerkiez vorgedrungen. So richtig golden wird es erst in der Boddinstraße, wo bereits jedes zweite Ladenlokal eine Galerie ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!