Porträt eines Kreuzberger Kiezmalers: Kotti in Öl
Kunst oder Handwerk? Der amerikanische Maler William Wires bannt Moscheebaustellen, Kneipen und Straßenecken auf Leinwand. Als Kiezchronist sieht sich der 57-Jährige aber nicht.
William Wires steht im ersten Stock eines Cafés in der Görlitzer Straße und schaut auf seinen Kiez: Draußen, vor dem Fenster, liegt der Görlitzer Park. Drinnen, an den putzfleckigen Wänden einer ehemaligen Leiterplattenfabrik, hängen dicht an dicht Impressionen aus der Umgebung: die Oberbaumbrücke, die Moschee in der Falckensteinstraße in einem frühen Baustadium, der McDonalds an der Skalitzer Straße. In den Nebenräumen finden sich auch Motive aus dem Graefekiez, aus Friedrichshain, Mainz und Danzig. Kirchtürme und Alleen sucht man auf den Bildern vergebens, in zarten Pastellfarben leuchten stattdessen Tankstellen, Plattenbauten und Kräne.
"Ich male keine Sehenswürdigkeiten, sondern Kieze", sagt Wires. Der 57-Jährige aus Newark, New Jersey ist eine Art postmoderner Heimatmaler. Ihn interessiert, was eine Nachbarschaft optisch zusammenhält. "Die Dinge, mit denen sich die Menschen identifizieren, sind oft banal: Kneipen, Häuserfassaden, Straßenecken", sagt er. "Ich male sie in Öl, um sie in der kulturellen Tradition zu verankern." Wires nennt die Vorbilder: Edward Hoppers Nachtszenen, die Schlagschatten des italienischen Surrealisten de Chirico, die knalligen Träume des Leipzigers Neo Rauch. Alles in Öl.
Wires bleibt vor einem Bild stehen, das die Kaisers-Filiale in der Wrangelstraße zeigt. Über die rote Supermarktschrift hat jemand in fetten, schwarz-grünen Lettern "This is not America" gepinselt. Jeder im Wrangelkiez kennt diesen Spruch, der einen David-Bowie-Song zitiert - auch Wires, der seit 20 Jahren in der Falckensteinstraße lebt. "Plötzlich war es da - und ist jetzt eins der meistfotografierten Motive hier", sagt Wires. Das Poetisch-Unwirkliche und die leuchtenden Farben hätten ihn bewogen, das Graffito in Öl zu bannen.
Wenige Tage nach der Vernissage trägt das Supermarktbild bereits einen roten Punkt: verkauft, an eine junge Frau aus der Wrangelstraße. "Sehr schweren Herzens" habe er das Bild veräußert, sagt Wires und schaut für einen Moment drein, als zweifle er am Sinn von Kunstverkauf im Allgemeinen. Dann strafft er sich und ruft: "Was solls, ich werde noch so viele neue Bilder malen - sehen Sie, ich habe schon meine Malkleidung an!"
Nur draußen wird gemalt
Wires trägt Thermohose, Wollpulli und schwere Lederschuhe. Er malt ausschließlich draußen. Mit Staffelei, Leinwand und Farben postiert er sich an Gehsteigen, Straßenecken oder im Park. Und malt, was er sieht. "Manipulierten Realismus" nennt er seinen Stil. Er malt den Kiez nicht fotogenau, sondern so, wie er ihn sieht. Dabei nimmt sich Wires die Freiheit, einen Laternenpfahl um ein paar Meter nach links zu verrücken oder die Farbe von Fensterrahmen zu verfremden. Hauptsache, die Gesamtkomposition stimmt mit seinem Gefühl für den Ort überein. Intuitiv wählt er auch seine Motive und lauert manchmal monatelang darauf, dass eine Aufschrift auf einer Hausfassade den gewünschten Grad der Verwitterung erreicht hat. "Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, spüre ich das", sagt Wires.
Anfangs malte er auf Holz, weil er Angst vor der Leinwand hatte. "Da entsteht sofort ein Druck, Qualitätskunst produzieren zu müssen." Seine Methode, auf der Straße zu arbeiten, rückt Wires andererseits in gefährliche Nähe zu Hobby- oder Heimatmalern, die ihre schnell vor Ort entstandenen Werke an Passanten verscherbeln. "Es gibt da grässliche Konkurrenz", sagt Wires und seufzt. Auch er selbst sei nie von Zweifeln frei, was seine Arbeit angehe. Er frage sich immer wieder: "Bist du Künstler oder Maler? Ist das Kunst, was du machst - oder nur Handwerk?"
Wires malt abseits des regulären Kunstbetriebs. Von der letzten Galerievertretung hat er sich schon vor Jahren getrennt, seine Arbeiten verkauft er direkt, Käufer erreicht er durch Mundpropaganda oder Farbdrucke seiner Ölbilder im Postkartenformat. Was anfangs nur als Werbeträger gedacht war, hat inzwischen eine Eigendynamik entwickelt: Die bunten Kiezpostkarten verkaufen sich in Schreibwaren- und Buchläden so gut, dass sie für den Maler inzwischen eine verlässliche Einnahmequelle darstellen. Über die Postkarten wiederum kommt so mancher Käufer zu Wires, am wichtigsten aber sei der persönliche Kontakt. Als er am Mainzer Hafen die Kräne malte, sprach ihn ein Anwohner an, begeistert, die Panoramen, die sein halbes Leben begleitet hatten, auf Leinwand zu sehen. Er erwarb gleich mehrere Werke. "Der Mann hatte zum ersten Mal Kunst gekauft - meine. Das war sehr bewegend", erinnert sich Wires, der die Nähe zu seinen Käufern genießt. Oft kommen Kneipen- oder Ladenbesitzer auf ihn zu und bitten um ein Bild. Darauf gehe er aber nur ein, wenn er das Motiv mag, betont der Künstler. Etwa die Kneipe Feuermelder in Friedrichshain oder das Eiscafé I Gemelli im Wrangelkiez.
Momentan malt Wires eine bestimmte Ecke des Görlitzer Parks für ein Hochzeitspaar aus dem Kiez. Manchmal finden ihn ehemalige Kreuzberg-Bewohner im Internet und kaufen aus Heimweh ein Bild. Schöne Momente seien das, sagt der studierte Architekt, der mit 24 nach Deutschland zog und dort erst Kunstdrucker in München, dann Illustrator und Partner in einem Berliner Architekturbüro war. Seit er freier Künstler ist, hält er sich mit Zeichenkursen für Architekturstudenten über Wasser.
Aber nach zehn Malerjahren zwischen Görlitzer Bahnhof, Boxhagener Platz und Bergmannstraße spürt Wires, dass es Zeit ist für Veränderung. Jedes noch so kleine Detail zwischen dem Schlesischen Tor und dem Boxhagener Platz hat er erkundet und dabei die Entwicklung der ehemaligen Randbezirke zu Szeneorten begleitet. Unter keinen Umständen aber will er zum Kiezchronisten werden, dessen Bilder an "früher" erinnern. "Das wäre furchtbar heimatmalermäßig!", ruft er und misst erregt den Raum mit Schritten ab, als fühle er sich zwischen seinen Bildern eingesperrt.
Wires will in anderen Städten malen, andere Länder, neue Motive erkunden. So viel zu tun - aber bevor er sich zu neuen Ufern aufmacht, möchte er erst einmal aufräumen. Rund 300 Ölbilder und 1.000 Aquarelle lagern in William Wires Wohnung - Frau und Kind hätten kaum noch Platz. Außerdem bleiben die Zweifel, die ihn regelmäßig heimsuchen: Ist es gute Kunst, die Eisenbahn-Markthalle oder den "Burgermeister" unter der Hochbahn zu malen? Ist er auf dem richtigen Weg?
Preise bis zu 1.600 Euro
Um Platz zu schaffen und sich der eigenen Position bewusster zu werden, organisierte Wires die Vernissage im "Nest" am Görlitzer Park Ende November. Es gab Einladungen, Häppchen und eine Preisliste aller 89 gezeigten Arbeiten, die zwischen 550 und 1.600 Euro kosten. Eigentlich, sagt Wires, wolle er gar nicht mitmachen im System Kunstverkauf. Doch dann freute er sich doch, dass gut hundert Leute kamen, um sich im Obergeschoss des Cafés seine Bilder anzusehen, darunter so verschiedene Menschen wie Anwälte und Exjunkies aus den ruppigen Frühzeiten des Viertels.
Diese Vernissage war wohl die letzte, die in der temporären Galerie stattfand: Nächstes Jahr wollen die Betreiber dort Büroplätze vermieten. Da passt es, dass Wires der letzte ausgestellte Künstler ist - der Mann aus Amerika, der den Zugezogenen von heute den Blick des Einheimischen und unzählige gemalte Erinnerungen entgegensetzt.
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