Warum Briten "Dinner for One" kaltlässt: Skål, Miss Sophie!
Jedes Jahr lacht Deutschland über den englischen Sketch und den betrunkenen Butler James. Die Briten kennen ihn nicht. Und wenn, finden sie ihn höchstens merkwürdig.
Das Prozedere ist dasselbe wie im letzten Jahr und in allen Jahren zuvor: Meine deutsche Mitbewohnerin und ich sehen uns den 18-minütigen Sketch an, der quasi zu einer deutschen Institution geworden ist.
Drei Jahre ist es mittlerweile her, dass sie mich mit der kleinen Zeremonie um "Dinner for One", das auch "Der 90. Geburtstag" heißt, vertraut gemacht hat. Seitdem besteht sie darauf, dass wir uns den kurzen Film jedes Jahr zu Silvester wieder ansehen.
Während wir vor dem Fernseher sitzen und die DVD einschieben, ist ihre Erregung förmlich greifbar. "The same procedure as last year" - dasselbe Ritual wie letztes Jahr -, zitiert sie dann lachend, und ich grinse zurück.
Der Sketch ist zwar mit britischen Schauspielern gedreht und auf Englisch, trotzdem ist "Dinner for One" beim Großteil der britischen Bevölkerung unbekannt. Wer ihn dennoch gesehen hat, findet ihn immerhin noch ziemlich merkwürdig.
Als Kind hat meine deutsche Freundin sich die kurze Sequenz jedes Jahr zusammen mit ihrer Familie angesehen. Diese Tradition fand ein abruptes Ende, als sie nach London zog, wo "Dinner for One" an Silvester nicht ausgestrahlt wird. Als wir zum ersten Mal Silvester zusammen verbrachten, hatte sie den Film zuvor von einem Freund auf DVD bekommen. "Das musst du sehen! Du wirst es lieben", insistierte sie, während sie mich sanft in den Sessel drückte und dabei die DVD schwenkte. Seit drei Jahren sehen wir nun, nach einer kurzen Einführung auf Deutsch, dem Butler James dabei zu, wie er den Tisch für die Gäste von Miss Sophies 90. Geburtstag deckt.
Das Problem ist nur: Alle vier geladenen Gäste haben Miss Sophies hohes Alter gar nicht erreicht. Deshalb muss James so tun, als ob er jeden einzelnen der imaginären Gäste bedient, und zugleich deren Rollen übernehmen, indem er Toasts ausspricht und auf Miss Sophies Wohl anstößt. Im Laufe des Dinners wird James immer betrunkener und stolpert immer häufiger, was bei meiner Mitbewohnerin dann unkontrollierte Lachanfälle auslöst. Mit jedem Mal, das James über den Kopf des Tigerfells stolpert, der als Kaminvorleger dient, steigert sich ihre Freude noch ein bisschen mehr.
Schauspieler Freddie Frinton beherrscht die Situationskomik tatsächlich meisterhaft, und ich lächle auch höflich, während meiner Freundin mittlerweile die Tränen vor Lachen herunterlaufen. Aber so richtig kann ich den Spaß, den meine Mitbewohnerin dabei hat, nicht nachvollziehen. Mich amüsiert ihre Verzückung, dem Film selbst kann ich nicht viel abgewinnen.
Frintons Darstellung eines Betrunkenen ist zwar brillant, aber die witzigen Sticheleien, der Sarkasmus und der trockene Humor der modernen britischen Comedy sind mir viel lieber. Jemanden, der lallt oder betrunken versehentlich aus einem Blumentopf trinkt, habe ich einfach schon zu oft gesehen. Über die hundertste Wiederholung kann ich deshalb nicht mal mehr müde lächeln.
"Dinner for One" war ursprünglich ein Publikumserfolg in britischen Seebädern. In Blackpool wurde der Sketch dann vom deutschen Fernsehstar Peter Frankenfeld und seinem Produzenten Heinz Dunkhase entdeckt. Die beiden überzeugten die britischen Komiker Freddie Frinton und May Warden, das Stück im Juli 1963 in einem Hamburger Theater live für den NDR aufzunehmen.
Es ist schon komisch, dass dieser englische Sketch zu so einer deutschen Tradition geworden ist, während die Briten ihn kaum kennen. Deutschland ist aber nicht das einzige europäische Land, das sich am trunkenen Elend von James ergötzt. Wenn er bei jedem einzelnen Glas "Muss ich, Miss Sophie?" gurgelt, lachen sich auch Schweden, Norweger, Finnen oder Österreicher halb tot.
Vielleicht ist es aber gar nicht so sehr der Humor, der das deutsche Publikum überzeugt hat, sondern eher die Tradition, am Silvesterabend zusammen mit der Familie vor dem Fernseher zu sitzen und den Possen eines betrunkenen Butlers zuzusehen. Um das Ganze auf die Spitze zu treiben, wird der Sketch den ganzen Tag über ständig wiederholt, damit auch ganz sicher niemand die Gelegenheit verpasst.
In Großbritannien sitzt man eher an Weihnachten mit der Familie zusammen, isst gemeinsam und sieht sich unzählige Filme an. An Silvester trifft man sich dann mit Freunden, feiert, trinkt und begrüßt das neue Jahr. Aber keine spezielle Sendung hier schafft es, die Menschen auf dieselbe Art zusammenzubringen, wie "Dinner for One" es mit dem Kontinent schafft.
Vielleicht fehlt den Briten eine solche Tradition, seine Liebsten während der Feiertage vor dem Fernseher zu versammeln und etwas anzusehen, das alle bereits kennen und lieben. Womöglich sollten auch wir anfangen, das neue Jahr auf diese Art zu begrüßen.
Ich für meinen Teil werde mir dieses Jahr, genau wie die drei Jahre zuvor, den 18-Minuten-Sketch mit meiner Mitbewohnerin ansehen, bevor wir uns auf den Weg ins Pub machen, um dort ein paar Bier zu trinken und so die letzten Stunden bis 2011 rumzukriegen. Eine Tradition, die ich sicher auch in den nächsten Jahren weiterführen werde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Tierkostüme als Gefahr aus dem Westen
Wenn Kinderspiele zum Politikum werden