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die wahrheitZu Besuch bei Schwan

"Komm mit in mein Zimmer." Ich folgte Schwan über eine enge, steile Treppe mit wackligem Geländer in den Keller, wo es ein abgetrenntes Kämmerchen gab...

... Licht kam nur durch eine kleine Luke unter der Zimmerdecke herein, es roch nach feuchten Matratzen. Die Einrichtung war überaus karg, es gab bloß eine Liege mit etlichen Kissen, einen Stuhl und ein Bücherbord.

"Du kannst dich hinsetzen, wo du willst", sagte Schwan. Angespannt ließ ich mich auf dem Stuhl nieder, Schwan legte sich auf sein Matratzenlager. "Sieh her", sagte er, "so liege ich immer hier unten." Demonstrativ nahm er nacheinander verschiedene Ruhestellungen ein und schnitt Gesichter dazu. Was er mir vorführte, wirkte über lange Zeit hinweg entwickelt und unzählige Male in genau dieser Weise exekutiert.

Schwan steigerte sich ungehindert in ein manisches Grimassieren hinein. Schließlich bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und seufzte. "Nun hast du schon sehr viel von dem gesehen, was ich in meiner Freizeit tue", richtete er anschließend ernst das Wort an mich. "Ich gehe nie aus, bekomme nie Besuch, bin mit niemandem befreundet. Ich lese nichts, ich höre keine Musik, ich schreibe oder zeichne nicht, ich denke an nichts. Es ist tatsächlich so, dass ich mich für absolut nichts interessiere. Ist das nicht furchtbar?" Ich hatte Angst, mit unbedachten Worten unkontrollierbare Folgen heraufzubeschwören. Daher nickte ich nur mit dem Kopf.

"Du wirst fragen, ob das nicht langweilig ist?", kam es von der Liege her. "Ja, es ist sogar ungeheuer langweilig, doch diese Langeweile ist köstlich. Sie ist meine Meditation, mein Gottesdienst! Es ist fesselnd zu beobachten, wie ich im Laufe der Zeit zusehends degeneriere und den Verstand einbüße. Guck, ich mach dir noch was vor."

Schwan setzte sich an den Rand der Liege. Unvermittelt begannen seine Beine sich zu bewegen. Indem die Fußspitzen nebeneinander auf dem Boden stehenblieben, die Fersen aber in wildem Zappelrhythmus auf und ab bewegt wurden, hüpften die Knie entsprechend, hin und wieder auch gegeneinander. Schwan kommentierte: "Sieh dir die Veränderungen im Faltenwurf an! Faszinierend! Das sind Lebewesen! Achtung, jetzt kommt es zum Kampf der Hosenbeinknie! Los! Beißt euch, fresst euch!"

Er lachte schrecklich, immer toller tanzten die Knie. Mit einem Schrei sprang er auf. Ihm war anzusehen, welche Anstrengung es ihn gekostet hatte, sich aus dem Sog des Irrsinns zu reißen. Gleich darauf ließ er sich erschöpft auf die Liege zurückfallen. Dann sprach er: "Nicht einmal meine Mutter ahnt etwas. Und wenn ich will, wirst du es niemandem verraten. Ich kann dich im Keller verscharren, ohne dass je einer davon erfährt."

Zu meinem Glück kam in diesem Moment seine Mutter herunter, um Bescheid zu sagen, dass das Abendessen fertig sei. "Sie können gern noch bleiben und etwas mit uns essen", bot sie mir an, "aber nicht länger, denn anschließend muss mein Sohn sofort zu Bett. Er braucht viel Schlaf, und für heute war es doch auch genug, nicht?"

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