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Augenzeuge im libyschen BengasiDie Stimmung kippt

Die Bevölkerung der Stadt hat Angst vor der Rache des Regimes – und fühlte sich bis zur Nacht zum Freitag von der internationalen Staatengemeinschaft im Stich gelassen. Ein Student berichtet.

Die Einwohner Bengasis fürchten um den Sieg der Revolution: Ein Junge und ein Mann mit der alten libyschen Flagge, dem Symbol des Protestes. Bild: dpa

BERLIN/BENGASI taz | Ayman Majde, ein 27-jähriger Student der Wirtschaftswissenschaften aus Bengasi, war in den vergangenen Wochen am Telefon stets guter Dinge, hörte sich hoffnungsfroh, ja zuweilen sogar euphorisch an angesichts des Aufstandes in seiner Stadt, der damit verbundenen Aufbruchsstimmung und der Zuversicht auf eine bessere Zukunft für sein Land.

Doch am Donnerstag klang seine Stimme ganz anders, dunkel und bedrückt. Er fühle sich schlecht und habe Angst, sagt er der taz während eines Handygespräches. Er entschuldigte sich dafür, dass er nicht mehr skypen könne, da das Internet nicht mehr funktioniere.

Der verschreckte Majde berichtet: „Ich bin seit heute Morgen bei meiner Familie zu Hause. Wir werden das Haus so schnell auch nicht wieder verlassen, denn die Stadt ist nicht mehr sicher. Wir hören draußen viele Schüsse, und das nun schon seit Stunden. Wir sind verängstigt, denn wir wissen nicht, was mit uns passieren wird, falls die Regierungstruppen die Stadt einnehmen werden.“

Majde, der im Zentrum von Bengasi lebt, berichtet, er habe zuletzt am frühen Morgen das Haus verlassen und in den Straßen im Zentrum der Stadt tausende Männer mit Waffen gesehen: „Sie sind zu allem bereit“, sagt er, „denn sie haben Angst vor Terror- und Willkürakten gegen die Bevölkerung, falls sie in die Hände des Gaddafi-Regimes fallen.“

Martin Lejeune

Ehemaliger freier Mitarbeiter, die taz hat 2014 die Zusammenarbeit beendet.

Inzwischen wächst auch bei Majde die Sorge, dass die Revolution nicht siegen werde. Denn die Armee kontrolliere bereits die Stadt Suwaitina 150 Kilometer südlich von Bengasi und Ad-Dirsiyah, das etwa in der Mitte zwischen Bengasi und Al-Baida liegt, wie er durch Freunde am Telefon erfahren habe, die dort leben. „Komm und berichte, was hier passiert“, sagt er dem Journalisten am anderen Ende der Leitung, der dies aus sicherer Entfernung mit anhören muss. „Nur die Weltöffentlichkeit und ein Eingreifen der UNO kann meine Stadt noch retten.“

Doch so richtig mag er wohl selber nicht mehr daran glauben. Er fühlt sich von der internationalen Staatengemeinschaft im Stich gelassen, die bis zum Donnerstagabend nicht einmal eine Flugverbotszone, „wie damals im Irak“, hinbekam, um „die Menschen hier“ zu schützen. Auch vom Interims-Nationalrat in Bengasi ist Majde enttäuscht: „Der Rat ist nur ein Rat und nichts weiter. Er hat keine Polizei und keine exekutive Durchsetzungskraft. Er kann nichts machen und uns nicht schützen vor den anrückenden Regierungstruppen.“ Dies spiegele letztlich wider, so Majde, über wie wenig Rückhalt der Rat in der Bevölkerung des gesamten Ostens verfüge.

Ali Abdul-Aziz al-Isawi, der sogenannte „Außenminister“ des Rates, habe zwar wie er Wirtschaftswissenschaft an der Garyounes-Universität in Bengasi studiert und verfolge vielleicht sogar aus seiner Sicht gute Absichten, aber „letzten Endes ist er doch ein Wendehals, der seit seinem Abgang von der Universität im Jahre 1989 treu im Dienste des Außenministeriums stand und sich erst im Februar, zu einem Zeitpunkt, als Bengasi schon befreit war, auf die Seite der Aufständischen schlug“. Majde befürchtet, dass im schlimmsten Falle, einer Einnahme Bengasis, sich „Wendehälse“ wie al-Isawi rechtzeitig ins Ausland absetzen könnten, „die einfache Bevölkerung aber schutzlos der Rache und dem Zorn al-Gaddafis ausgesetzt sein wird“.

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