Kommentar Afghanistan: Öl ins Feuer gegossen
Die Vorwürfe gegen die Taliban sind strategisch. Sie sollen davon ablenken, dass die afghanische Regierung im Zentrum und in der Provinz oft korrupt ist und repressiv vorgeht.
D ie Taliban für die Morde an den sieben UN-Bediensteten und für die vielen afghanischen Toten bei Demonstrationen am Freitag und Sonnabend verantwortlich zu machen, ist verständlich. Schließlich haben sie mit brutalem Terror über Jahre alles dafür getan, dass man ihnen zutrauen kann, auch hier mitgemischt zu haben. Beweise aber gibt es bisher nicht.
Die Vorwürfe sind vielmehr Teil einer Schuldzuweisungsstrategie. Sie soll davon ablenken, dass die afghanische Regierung - im Zentrum wie auf auf Provinzebene - oft korrupt ist und repressiv vorgeht. Menschen, die außerhalb der herrschenden Netzwerke stehen, werden von Machtausübung und Ressourcenzugang abgeschottet.
Nach drei Jahrzehnten Bürgerkrieg bedeutet solche Marginalisierung für viele soziale Verarmung und politische Ohnmacht. Das macht Gewaltausbrüche wahrscheinlicher, wenn auch nicht entschuldbar - auch Muslime, die über die Provokation einer Koranverbrennung auf das Äußerste erbost sind, müssen Grenzen respektieren.
THOMAS RUTTIG ist Kodirektor des unabhängigen Thinktanks Afghanistan Analysts Network (Kabul/Berlin).
Zu den Untaten der vergangenen Tage tragen mehrere Faktoren bei. Zum einen sind da jahrelange Frustration vieler Afghanen über eine mangelnde Verbesserung ihrer Lebensumstände, trotz aller Milliardenhilfen, die militärische und politische US-Dominanz in ihrem Lande, die steigende Zahl an zivilen Kriegsopfern und letztens ein weiterer Fall fast schon rassistischer, zudem visuell dokumentierter Missachtung ihrer Würde durch US-Soldaten.
Diese Erfahrungen widersprechen eklatant den im Westen über Afghanistan verbreiteten Fortschrittsberichten. Zum Zweiten handelt es sich in Afghanistan nicht wie im Westen um eine säkularisierte Gesellschaft; Angriffe wie die Koranverbrennung in den USA auf die - pardon - hiesige Leitreligion sind auch für Nicht-Taliban, und das ist die Mehrheit, inakzeptabel. In einer solchen Situation sollte niemand noch Öl ins Feuer gießen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen