Atomkatastrophe in Japan: "Wir sind jetzt alle Strahlungsopfer"
Die Stadt Iwaki liegt knapp außerhalb der Evakuierungszone um Fukushima. Die Strahlung hier ist zehnmal so hoch wie in Tokio. Angst vor Atomkraft hatte man hier früher nicht.
IWAKI taz | Iwaki ist eine ganz normale, wohlhabende japanische Stadt: 340.000 Einwohner, ein modernes Rathaus, schicke Kaufhäuser und tolle Restaurants, unauffällige Fabriken, dazu ein etwas weiter weg gelegener, malerischer Hafen. Von Tokio führt die Autobahn "Joban 6" Richtung Norden nach Iwaki. Schon an der Tokioter Stadtausfahrt zeigen Verkehrsschilder die Entfernung nach Iwaki an: 158 Kilometer. Doch zwischen den beiden Städten liegen seit dem Atomunfall in Fukushima Welten, deren Gegensätze sich mit einem Geigerzähler messen lassen.
In Iwaki in der Präfektur Fukushima liegt die radioaktive Strahlung seit vier Wochen zwischen 0,6 und 1,6 Millisievert pro Stunde. Das ist deutlich weniger, als am Rande der Evakuierungszone um die havarierten Atomkraftwerke gemessen wird. Dort liegen die durchschnittlichen Messwerte in den letzten Wochen über 10 Millisievert pro Stunde. Aber in Iwaki herrscht trotzdem deutlich mehr Strahlung als in Tokio - etwa zehnmal so viel. Das reicht. Das reicht, um die ganze Stadt einem ihr bislang unbekannten Terror auszusetzen: dem Schrecken der Radioaktivität. Er währt schon seit dem Tag von Erdbeben und Tsunami, dem 11. März. Er könnte ewig andauern. Nur 45 Kilometer sind es von Iwaki Richtung Norden bis zu den Unfallreaktoren.
Schon auf den ersten Blick nach dem Verlassen der Autobahn wirkt Iwaki wie eine nur noch halblebendige Stadt. Viele Geschäfte, Restaurants und Tankstellen sind geschlossen. Schon nach den ersten Explosionen am AKW-Standort Fukushima flüchteten viele Bürger von Iwaki nach Süden. Von 50.000 bis 100.000 reichen die Schätzungen der Flüchtlingszahlen. Wie viele inzwischen zurückgekehrt sind, weiß niemand. Doch wer nicht geflüchtet ist, bleibt jetzt lieber zu Hause oder verlässt Büro oder Fabrik nicht. Deshalb sind die Straßen menschenleer. Nur Autos fahren.
Willkommene Hilfe
"Ich möchte jetzt ganz viel AKW-Luft einatmen, krank werden und schnell sterben", sagt die 75-jährige Miyako Ohisa. Die alte Frau lacht dabei, und doch ist es ein Ausruf des Verzweifelns inmitten einer aus ihrer Sicht unvorstellbaren Katastrophe. Ohisa lebt allein in ihrem Holzhaus in einer Meeresbucht von Iwaki. Ihr Mann arbeitete in der Fischindustrie und verstarb vor Jahren. An diesem Tag wird Ohisa schon morgens von einer Gruppe junger Freiwilliger aufgesucht, die von weit her in Japan gekommen ist, um den Opfern von Tsunami und Atomstrahlung in Iwaki zu helfen.
Ohisa ist darüber überglücklich. Sie empfängt die jungen Leute mit tiefen Verbeugungen. Sie reißt zur Begrüßung ihre weiße Maske herunter, die jetzt alle in Iwaki zum Schutz gegen die Radioaktivität tragen. Tatsächlich hat Ohisa jede Menge Arbeit für die Freiwilligen. Ihr Haus wurde bis zur Tischhöhe im Erdgeschoss vom Wasser der großen Tsunamiwelle durchspült. Jetzt liegt noch im ganzen Haus hochgetürmt der Meeressand, den die Welle hinterließ. Auch sind die traditionellen Tatami-Matten, die Ohisa als Fußbodenbelag verwendet, immer noch feucht und nass. Die Freiwilligen müssen also das ganze Haus ausräumen.
Schon seit dem 11. März nächtigt Ohisa mit anderen Evakuierten in der nahen Turnhalle einer Mittelschule. Sie will endlich wieder nach Hause. Aber sie weiß auch, dass zu Hause nichts mehr so sein wird wie vor der Katastrophe. "Man muss immer sein Lachen bewahren", sagt Ohisa aufmunternd zu den Freiwilligen. Doch auf die Folgen des Atomunfalls hin befragt, antwortet sie düster: "Die Menschen bleiben eben Sklaven." In Iwaki, so denkt sie, sind sie jetzt alle Sklaven der Radioaktivität.
Kaum einer fühlt das Gewicht der unsichtbaren Strahlung so schwer auf seinen Schultern lasten wie der Fischhändler Nakata in Onahama, dem Hafen von Iwaki. Nakatas stolzes, großes Geschäftshaus stand direkt an der Küstenstraße. Es war genauso wie das Familiengeschäft knapp hundert Jahre alt. Nun aber liegen die dicken Holzständer des Hauses schief, ist das schwere Naturziegeldach eingestürzt, sind die alten, dunklen Zypressenholzwände auf dem Erdboden zerdrückt. Dennoch: "Das Haus habe ich schnell wieder aufgebaut", sagt der 58-jährige Fischhändler. Nakata trägt an diesem warmen, sonnigen Frühlingstag in Iwaki zwei dicke Anoraks übereinander. Er nimmt seine weiße Maske zur Begrüßung nicht ab. Er denkt an die Atomreaktoren im Norden. Und er denkt Dinge, die er nie in seinem Leben für möglich hielt.
Heute denkt der Fischer anders über Atomkraft
"Ich habe den Atomkraftgegnern nie Bedeutung geschenkt. Solange die AKWs gut liefen, gab es keinen Grund zur Beschwerde. Aber jetzt denke ich, die Gegner haben recht gehabt. Und ich sage, 80 Prozent der Leute in Iwaki denken heute wie ich. Wir können machen, was wir wollen. Die Radioaktivität bleibt für immer", sagt Nakata. Er denkt dabei auch an seinen Fisch. Er stellte im Hinterhof seines Anwesens bislang eine besondere Spezialität her: getrocknete Thunfischflocken als Beilage für Tofu und Gemüse. Für ihn seien die Folgen der radioaktiven Strahlung besonders kompliziert, sagt Nakata. "Ich stelle Lebensmittel her!", ruft der Fischhändler plötzlich laut, als wolle er sich beklagen. Wer will heute noch verstrahlte Fischflocken aus Fukushima, scheint er sich zu fragen.
Je länger man in Iwaki mit einfachen Bürgern spricht, desto mehr spürt man das Trauma der Radioaktivität. Gerade für Fischer, Bauern und deren Händler in Iwaki ist es schwer, sich die eigene Zukunft unter der andauernden radioaktiven Strahlung vorzustellen. Noch weiß niemand genau, wie und wie viel radioaktive Strahlung derzeit aus den Reaktoren in die Atmosphäre und ins Meer gelangt. Noch ist mit den Reparaturarbeiten an den Reaktoren nicht einmal begonnen worden, weil der Zugang für Ingenieure und Arbeiter zu gefährlich ist. Also strahlen die Anlagen weiter und kontaminieren Luft, Wasser und Boden. Jeder in Iwaki weiß das. Doch in dem Wissen wird der Alltag immer komplizierter.
Das beginnt bei der Kleidung. Keiner weiß mehr, was man anziehen soll. An der Küste, wo die Leute ihre Häuser aufräumen und keine andere Wahl haben, als nach draußen zu gehen, tragen sie ihre dicke Fischerjacken gegen Sturm und Regen auch in der prallen Sonne. Kaum ein Mensch geht mehr ohne Maske nach draußen. Ob das wirklich hilft, weiß niemand. Ebenso vorsichtig ist man beim Essen: Viele sagen, dass sie jetzt kein Fisch und Gemüse mehr essen. Die Schulen bieten den Kindern kein Essen an - für japanische Verhältnisse unerhört. Schulessen gab es selbst den ganzen zweiten Weltkrieg durch.
Für den 55-jährigen Mittelschuldirektor Masanori Oba waren die letzten Wochen eine einzige Ausnahmesituation. Oba organisierte in seiner Schule die erste Hilfe für die Opfer von Erdbeben und Tsunami. Seine Schule liegt auf einem Küstenhügel. Bis hierher kam die Tsunamiwelle nicht. Also holte er die alten Leute aus den umliegenden Stadtvierteln zu sich. Er besorgte ihnen Lebensmittel und Decken. "Die Regierungsbürokratie war viel zu langsam. Wir mussten uns selbst helfen", sagt Oba, der einen schwarzen Trainingsanzug trägt. Er ist Sportlehrer. Bis heute kampieren etwa hundertfünfzig Senioren, unter ihnen Miyako Ohisa, in seiner Turnhalle. Als die Freiwilligen ihm Kleidung und frische Eier für die Evakuierten schenken wollen, die sie in vielen Kartons mitgebracht haben, lehnt Oba ab. "Genug, es ist genug!", ruft er. Nur Zigaretten für die Alten und Schreibsachen für die Schulkinder nimmt er an. Seit einigen Tagen hat der Unterricht wieder begonnen.
Doch Oba weiß noch gar nicht, was er seinen Schülern über den Atomunfall erzählen soll. "Ich schlafe seit dem 11. März im Schulgebäude. Ich habe mir noch keine Gedanken über den Unterricht gemacht", sagt Oba. Er ist auf einmal sehr vorsichtig bei der Wahl seiner Worte. Als öffentlicher Angestellter der Stadt Iwaki kann er nicht so frei wie andere über Atomkraft reden. Er sagt nur: "Alle Eltern haben Angst vor der Strahlung. Wir müssen jetzt jeden Tag die Strahlung auf dem Schulgelände messen und die Schule für sicher erklären. Sonst schicken sie ihre Kinder nicht."
Das Militär bringt tägliche Erlösung: Wasser
Auf Obas Schulhof steht seit der zweiten Krisenwoche ein Tanklaster der japanischen Selbstverteidigungsarmee. "Hier gibt es Wasser!" steht darauf in weißer Farbe. Die Militärwagen bringen für die Bürger Iwakis immer noch eine Art alltägliche Erlösung: sauberes Trinkwasser. Zwar behaupten die Stadtbehörden, das Leitungswasser sei nicht verseucht. Nur die Leute glauben es nicht.
Eigi Suzuki, der 59-jährige Vizebürgermeister von Iwaki, hat also ein Problem. Er will die Ängste seiner Bürger beseitigen. Er möchte seine Stadt für sicher erklären. Er will endlich mit dem so dringend nötigen Wiederaufbau nach Erdbeben und Tsunami beginnen. Doch es ist nicht so einfach.
Suzuki, in Arbeitsjacke, ohne Krawatte, sitzt auf einem Klappstuhl im provisorischen Notstabsquartier seiner Stadtverwaltung. Das neue Rathausgebäude von Iwaki wurde durch das Erdbeben schwer beschädigt. Suzuki ist Teil der Nomenklatura, die Iwaki fest im Griff hat. Er selbst ist kein gewählter Politiker, wohl aber der höchste Beamte seiner Stadt. Die Beamten haben in Japan aus alter konfuzianischer Tradition oft mehr zu sagen als die Politiker. Das gilt gerade für die Energiepolitik. In den Reihen der beiden großen demokratischen Parteien Japans, in der regierenden Demokratischen Partei ebenso wie bei den oppositionellen Liberaldemokraten, gibt es keinen einzigen namhaften Energieexperten. Sie kommen stattdessen alle aus dem Umkreis des Wirtschafts- und Industrieministeriums METI in Tokio. Und sie sind alle für Atomkraft.
Auch Vizebürgermeister Suzuki kennt gar keine andere Haltung. Gleichwohl weiß er, dass er heute nicht mehr so reden kann wie vor dem Atomunfall. Also gibt er luftige Erklärungen, dass man die Atomreaktoren stoppen müsste, um niemals wieder der gleichen Bedrohung wie am 11. März, dem Tag von Erdbeben und Tsunami, ausgesetzt zu sein. "Wir müssen Wirtschaftsweise und Lebensstil hinterfragen, die in so großem Maße auf Elektrizitätsverbrauch beruhen", sagt er. Aber er umgeht alle konkreten Fragen. Seine Bürger wollen wissen, ob Iwakis Schulen für die Kinder sicher sind, ob man Fisch und Gemüse noch essen kann. "Es ist praktisch unmöglich, überall die Radioaktivität zu messen", sagt Suzuki. Doch es klingt wie eine typisch bürokratische Ausrede. Für die Messungen der Radioaktivität in Iwaki sind bisher nicht die Stadt-, sondern die Präfekturbehörden zuständig. Da will sich Suzuki nicht einmischen.
Einsame Gegner der Atomkraft
Hinter dem Vizebürgermeister steht im Stadtrat von Iwaki eine große Mehrheit. Sie wird von den Liberaldemokraten getragen, die auch den Bürgermeister stellen. Ihr Fraktionsvorsitzender im Stadtrat heißt Shigeru Nemoto, ein knorriger, alter Unternehmer, der auch jetzt nicht von der Atomkraft abrücken will. "Japan ist keine Südseeinsel, auf der wir uns in die Hängematte legen können. Wir haben die Atomkraft akzeptiert, weil sie ein Segen für Japans Entwicklung ist. Wir können sie jetzt nicht einfach aufgeben", sagt Nemoto. Er spricht für alle in Iwaki, die bisher gut an der Atomkraft verdient haben. Vor allem für Tepco (Tokyo Electric Power Company), den Tokioter Energieriesen, der die AKWs in Fukushima baute. Nemotos eigene Fabrik für Badezimmereinrichtungen steht in einem der Bezirke innerhalb der Evakuierungszone rund um die Atomkraftwerke, wo Tepco bislang über 60 Prozent des Steueraufkommens zahlte.
Einsamer Gegner der Tepco-Lobby in Iwaki ist bisher der unabhängige Ratsherr Kazuyoshi Sato. Der einzige bekannte Atomkraftgegner der Stadt hat dieser Tage wie kein anderer zu tun. Schon morgens um 9 Uhr empfängt er junge Freiwillige von einem anderen, fern gelegenen AKW-Standort in Japan, die am Beispiel Fukushima die Gefahren für ihre eigene Gegend kennenlernen wollen. Er gibt ihnen Geigerzähler in die Hand, mit der sie die Strahlung in der Evakuierungszone messen sollen. Im Stadtrat hat sich Sato in den letzten Tagen für die vorübergehende Schließung der Schulen eingesetzt - solange man keine genauen Messwerte von jedem einzelnen Schulgelände hat.
Außerdem war Sato in Tokio unterwegs: Der 57-Jährige hielt eine Rede vor Atomkraftgegnern in der Hauptstadt. "Wir sind jetzt alle Strahlungsopfer", sagte er dort. Er reichte eine Bürgerklage aus Fukushima im Tokioter Wirtschafts- und Industrieministerium ein. Klare Festlegung der Evakuierungszone, Ausbau der Radioaktivitätsmessungen, Entschädigung für Bauern und Fischer - so lauten Satos Forderungen. Man möchte glauben, dass ihm jetzt mehr Leute zuhören. Doch das ist nicht klar. Die japanischen Medien, ob in Tokio oder Iwaki, ignorieren die Atomkraftgegner wie eh und je.
Doch wenn man die einfachen Bürger von Iwaki, die Ohashis und Nakatas heute nach dem Atomkraftgegner Sato befragt, hört sich alles ganz anders an. Für sie ist der Mann auf einmal ein Held, der schon immer recht gehabt hat. Sato selbst aber will jetzt nicht den Besserwisser spielen. "Heute haben wir 1,2 Millisievert in Iwaki gemessen. Ob das viel oder wenig Radioaktivität ist, muss jeder selbst wissen", sagt der Ratsherr. Doch das ist nicht nur ein Thema für Iwaki. Was es bedeutet, Strahlenopfer zu sein, werden die Bürger von Iwaki und anderen Orten der Region noch in vielen Jahren der ganzen Welt erzählen können.
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