Historikerin Meyer über jüdisches Bleiben: "Die Älteren wiegten sich in Sicherheit"
Beate Meyer von Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden hat einen Tagungsband mit herausgegeben, der sich mit jüdischem Bleiben und Fliehen zwischen 1938 und 1941 befasst.
taz: Frau Meyer, Ihr Buch zu Nazi-Deutschland zwischen 1938 und 1941 heißt "Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben". Gab es tatsächlich Juden, die bleiben wollten?
Beate Meyer: Ja, vor allem Ältere. Etliche fühlten sich als Deutsche und glaubten nicht, dass die Nazis es auf sie abgesehen haben könnten. Und selbst nach dem November-Pogrom von 1938 dachten viele, ich bin ein alter Mann, habe mich im Ersten Weltkrieg verdient gemacht und werde hier in Ruhe mein Leben fristen können. Aber das war eben der Irrtum: Sie sind ausnahmslos in die Deportationen einbezogen worden.
Warum nahmen die Jungen sie nicht mit ins Exil?
BEATE MEYER 58, Historikerin, ist seit 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Derzeit bereitet sie einen Band über die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" vor, der im Herbst erscheinen soll.
Teils, weil die Älteren krank waren. Andere trauten sich nicht mehr zu, in der Fremde ein neues Leben zu beginnen.
Wer versorgte die zurück bleibenden Senioren?
Das war tatsächlich ein Problem, weil über 25 Prozent von ihnen von Sozialfürsorge abhingen. Vom deutschen Fürsorgesystem hatten die Nazis sie aber ausgeschlossen. Das übernahmen dann die jüdischen Gemeinden und die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland".
Was war die "Reichsvereinigung"?
Eine ambivalente Organisation. Denn einerseits waren die Juden an solch einer Vereinigung interessiert, damit sie helfen konnte. Andererseits wollte der NS-Staat einen jüdischen Adressaten haben, der die antijüdischen Maßnahmen der Nazis umsetzte. Deshalb haben sie 1939 die Reichsvereinigung gegründet, in die alle jüdischen Stiftungen und Gemeinden eingegliedert wurden. Es war eine Zwangsorganisation, die direkt der SS unterstellt war.
Wann begannen die Deportationen?
1939 und 1940 gab es erste Deportationen, die aber noch keine systematischen waren. Aus dem heute polnischen Stettin und Schneidemühl, aus Baden und der Pfalz wurden aber schon Tausende von Juden deportiert.
Wohin?
Einige nach Polen, weil die Nazis ein Judenreservat in Lublin erwogen. Teils nach Frankreich, von wo aus die Juden nach Madagaskar gebracht werden sollten. Als klar wurde, dass England nicht so schnell zu besiegen und der Seeweg nach Madagaskar nicht frei war, saßen diese 500, 600 Juden dann in französischen Lagern fest.
Half ihnen niemand?
Die "Reichsvereinigung" hat es versucht, durfte aber nicht.
Was taten die jüdischen Gemeinden der Nachbarländer für die deutschen Juden?
Die jüdischen Gemeinden etwa in Belgien, den Niederlanden und Schweden haben versucht, Solidarität zu üben. Oft wurden sie allerdings von ihren eigenen Regierungen gebremst.
Und die internationalen jüdischen Organisationen?
Sie hielten sich zurück, weil sie fanden, dass die Unterstützung des Exodus dem NS-Regime in die Hände spielte, das die Juden ausplündern und loswerden wollte.
Dazu kam 1938 die Konferenz im französischen Evian-les-Bains, auf der die Staatengemeinschaft sich nicht auf die Aufnahme von Juden einigte.
Ja, leider. Im Prinzip war Evian der Moment, von dem an die deutschen Juden wussten, dass sie keine Unterstützung von außen bekamen; die Einreisebestimmungen des Auslands werden mit zunehmenden Flüchtlingsströmen eher rigider. Die wenigen Projekte, die man in Evian beschloss, kamen nicht sehr vielen zugute. Die Dominikanische Republik etwa erlaubte gerade mal 600 Menschen, sich anzusiedeln.
Warum verweigerten so viele Länder ihre Hilfe?
Sie befürchteten antisemitische Wellen in der Bevölkerung. Aber sie glaubten auch, auf Dauer Zigtausende von den Nazis ausgeplünderte, verarmte Juden versorgen zu müssen. Schweden etwa hat Juden nur als "Transitreisende" aufgenommen.
Wie lange waren die Nazis an Auswanderung statt Deportation interessiert?
Das Ende der Auswanderung war der 28. 10. 1941. Da begannen die Massendeportationen, und Auswanderung wurde offiziell verboten. De facto endete die individuelle Auswanderung aber mit Beginn des Zweiten Weltkriegs. Denn von diesem Zeitpunkt an konnten nur noch wenige ausreisen - und in immer exotischere Länder von Shanghai bis Südamerika. Die jüdischen Organisationen wollten dann Gruppenauswanderungen organisieren, scheiterten aber an den Kosten.
Gab es weitere Bemühungen?
Katholische Repräsentanten haben versucht, Kontakt mit dem Papst aufzunehmen, damit er sich bei der US-Regierung dafür einsetzte, Alaska für jüdische Besiedlung freizugeben. Eine Zeit lang gab es auch die - aus britischer Sicht illegale - Einwanderung ins damalige Palästina. Das ging während des Krieges aber nicht mehr, weil die Briten ihr Mandatsgebiet abriegelten.
Wie bereitete man sich auf die Flucht nach Palästina oder Südamerika vor?
Man lernte Sprachen und machte Umschulungen. Denn die meisten deutschen Juden waren kaufmännisch oder akademisch ausgebildet. In Palästina brauchte man aber Landarbeiter und Handwerker. Die Einwanderungsländer sagten klar, welche Berufsgruppen sie wollten. Das ließ sich aber auch umgehen.
Das gelang?
Manchmal. Als bekannt wurde, dass einige südamerikanische Länder nur katholische Landwirte aufnahm, hat der Hamburger Leiter der jüdischen Gemeinde 300.000 gefälschte Zertifikate gekauft, die die Leute als Bauern auswiesen.
Niemand brauchte Akademiker?
Doch. Naturwissenschaftlich-technische Berufe waren schon gefragt - mit Einschränkungen: Großbritannien hat eine Zeit lang nur Krankenhausangestellte aufgenommen. Und die USA erkannten die deutschen Arzt-Examina nicht an. Da musste man als Arzt froh sein, eine Stelle als Krankenpfleger zu bekommen.
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