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TheaterGemeinsam über die Grenze

Ödipus trifft Highschoolmusical: Beim Live Art Festival auf Kampnagel Hamburg wird das produktive Potenzial von Performances deutlich.

Gemeinsam in die griechische Mythologie: Die Performance "Ödipus der Tyrann" der Hamburger Gruppe Ligna. Bild: Kampnagel

HAMBURG taz | Schon seltsam, einem fremden Menschen aus nächster Nähe ununterbrochen in die Augen zu schauen. Lächelt man dabei? Oder kuckt man möglichst neutral?

Ein bisschen hilft, dass die rund 50 Leute in der schummrig beleuchteten Halle alle das gleiche Problem haben. Alle tragen Kopfhörer und handeln auf Anweisungen, die von einem MP3-Player kommen, den jeder umhängen hat. "Knien Sie sich hin!", heißt es, oder: "Schauen Sie ihrem Gegenüber in die Augen!" Alle gehorchen, erstaunlicherweise.

Neben den Anweisungen kommen Textteile von Hölderlins "Ödipus"-Übersetzung vom Band, kompiliert zu einer Art Hörspiel. Die Performance der Hamburger Gruppe Ligna heißt "Ödipus der Tyrann" und ist der erste Programmpunkt des Live Art Festivals, das noch bis 11. Juni auf Kampnagel in Hamburg stattfindet.

Die Ödipus-Performance dekliniert verschiedene Aspekte des Mythos durch. Tanzen soll das Publikum, sich gegenseitig verfolgen, sich selbst im Spiegel betrachten, anderen Leuten die Hände um den Hals legen und den Druck erhöhen. Alles, um in Ansätzen am eigenen Leib zu erfahren, was Ödipus durchlebt hat.

Danach hat man durchaus etwas zu erzählen, nur über den Text lässt sich nicht viel sagen: Textverständnis und eigene Beteiligung gehen nicht gut zusammen, zumal es durchaus anspruchsvoll ist, was die Gruppe Ligna an Textmaterial zusammengestellt hat.

Das Arrangement, über einen Kopfhörer zugleich angesprochen und involviert zu werden, hat bereits eine gewisse Geschichte, genauso wie der Live-Art-Begriff selbst. Der Begriff kam Mitte der 1980er Jahre in Großbritannien auf und meint Performances, die die Kunstform Theater überschreiten mit dem Ziel, neue Spielräume und neue Erfahrungen zu erschließen.

Ein häufig umgesetzter Live-Art-Ansatz ist, das Publikum in die Theateraufführungen einzubeziehen und es soziale Grenzen selbst spüren zu lassen. Was nicht bedeutet, dass Live Art zwangsläufig Mitmachtheater ist: Was zählt, ist die Begegnung jenseits der gängigen Formate und unter den Bedingungen der Gegenwart.

Wie reichhaltig dieses Verständnis von Performance nach wie vor ist, lässt sich auf dem Hamburger Festival zunächst im Sinne eines Kontrastes erleben. Auf "Ödipus der Tyrann" folgt die Performance "Life And Times - Episode 2" der New Yorker Gruppe Nature Theater of Oklahoma. Auf die Überforderung bei Ödipus folgt eine kalkulierte Unterforderung in Form eines Highschoolmusicals.

Bei "Life And Times - Episode 2" stehen sechs junge Amerikaner in Adidas-Trainingsanzügen auf einer leeren Bühne und singen. Die Songs klingen nach vorprogrammiertem Pop aus dem Casio-Keyboard und die Texte sind denkbar banal. Es geht ausschließlich um Erinnerungen, und zwar aus der Zeit, in der aus Kindern Jugendliche werden.

Die Darsteller nutzen das Rezitativ aus Oper und Kantate, um von Ferienanlageurlauben zu erzählen, vom Händchenhalten, von beliebten Mitschülerinnen, der ersten Zigarette, den Lieblingsbands, der Lieblingskleidung und so weiter.

Parallel zur pausenlos durchgehaltenen Soundkulisse gibt es eine pausenlose Choreografie: Beine kreisen, Schultern zucken, Köpfe nicken. Es ist eine Mischung aus rhythmischer Sportgymnastik und Musicalchoreografie, dargebracht in maschinenhafter Perfektion. Eine popkulturell versüßte Form von Uniformität. Die Bewegungen erinnern an Volkssport in einem totalitären Staat.

Zwei Stunden dauert diese Berieselung, und je länger man zuschaut, desto tiefer dringt die Pubertätsarie ins Bewusstsein. Dort aktiviert sie eigene Erinnerungen, die den dargebrachten Erinnerungen meistens frappierend ähneln.

Pubertätserlebnisse scheinen in der weißen westlichen Welt international standardisiert zu sein, einen Unterschied zwischen einer Pubertät in Deutschland und einer in den USA scheint es nicht zu geben.

Zudem sind - zumindest für die Pubertierenden der 1980er Jahre - die popkulturellen Folien identisch, auf denen die Erlebnisse stattfanden. Auf der Bühne wird sich erinnert an die Band Police, den Film Ghostbusters, die Marke Esprit - vermutlich waren die 1980er das letzte Jahrzehnt, in dem ein pubertärer Gleichklang großen Ausmaßes möglich war.

Das National Theater of Oklahoma persifliert diese konforme Form des Aufwachsens, wobei am Ende ein wohlwollender Blick auch auf die Peinlichkeiten der eigenen Biografie bleibt.

"Life And Times - Episode 2" ist die Fortsetzung von Episode 1, in der auf eine ähnliche Art und Weise die ersten Lebensjahre bis zum Alter von acht Jahren verhandelt wurden. Entsprechend wird sich Epidode 3 der Postpubertät widmen.

Zur Live Art passt das National Theater of Oklahoma, weil es die Grenze vom Theater zum Pop überschreitet, ohne selbst Pop zu werden. Diese Grenzüberschreitung volle zwei Stunden mitzumachen, setzt ein gewisses Durchhaltevermögen voraus. Aber am Ende hat man nicht nur etwas gelernt. Sondern auch etwas verstanden.

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