Die Wahrheit: Flackernde Augenringe
Regierungssprecher festgenommen +++ Steffen Seibert soll Autos angezündet haben +++ Kanzlerin schockiert +++
Im Morgenmantel nahm Angela Merkel die Nachricht entgegen, die ihr der leitende BKA-Beamte in ihrer Wohnung am Berliner Kupfergraben überbrachte. Die Bundeskanzlerin saß minutenlang da wie paralysiert. Dann löste sich ihre Schockstarre, und sie griff zum Handy. Wie wild tippte die Kanzlerin Kurznachrichten in das Gerät und versandte sie in die Morgendämmerung.
Noch in der Nacht von Donnerstag auf Freitag war Steffen Seibert festgenommen worden. Den Ermittlern zufolge war Seibert im Berliner Bezirk Wilmersdorf kniend vor einem Porsche Cayenne aufgefunden worden, als er gerade einen auf dem Vorderreifen platzierten Grillanzünder entflammen wollte. Bekleidet war der Regierungssprecher mit einem Kapuzenpullover, einer Jeans und Sneakers der Marke "Think!" - alles in Schwarz. Vom mitgeführten Mountainbike machte Seibert nach Polizeiangaben keinen Gebrauch. Er ließ sich widerstandslos festnehmen und bekundete sogar gegenüber den Zivilbeamten, die ihn offenbar schon einige Zeit beobachtet hatten, dass er froh sei, dass es vorbei sei: "Endlich haben Sie mich!"
Inzwischen sitzt Seibert in Untersuchungshaft, und das politische Berlin steht unter Schock. In ersten Stellungnahmen drücken führende Politiker ihr Entsetzen, aber auch Mitleid für den Täter aus. "Eine menschliche Tragödie", sagte der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder "Bild Online". "Der Koalitionsvertrag wird unabhängig von den Ereignissen eingehalten", erklärte der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler auf "Radio Eins". Und der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer meinte in einem Interview mit der Bunten: "Der Koalitionsvertrag wird eingehalten - unabhängig von den Ereignissen."
Zufrieden äußerte sich der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit: "Die Polizei hat einen großartigen Job gemacht. Ich gratuliere dem Innensenator dazu, dass er die Stadt ein Stück weit sicherer gemacht hat." Die grüne Spitzenkandidatin für die Berliner Abgeordnetenhauswahl Renate Künast wusste mehr zu berichten: "In letzter Zeit hatte Seibert immer dieses Flackern in den Augen."
Jahrelang hatten die Berliner gerätselt, wer hinter den Brandanschlägen auf ihre Autos steckte. Hunderte Fahrzeuge waren in Flammen aufgegangen. Zeitweise wurden die Taten Linksextremisten, Nachahmern, Pyromanen, Kampfradlern, Leierkastenmännern und sogar Boulevardjournalisten angelastet, die so angeblich ein Klima der Angst und des Schreckens insbesondere vor den Wahlen schaffen wollten. Und jetzt Steffen Seibert!
Aber wie kommt ein veritabler Regierungssprecher dazu, nachts ganz in Schwarz durch die Straßen der Hauptstadt zu ziehen und zu zündeln? "Offenbar hat Seibert den Umzug von Mainz nach Berlin nicht verkraftet", meldete sich sofort nach der Tat Deutschlands führender Ferndiagnostiker, der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer, zu Wort: "Die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen Neukölln und Zehlendorf haben einen persönlichen Riss verursacht. Seibert wusste nicht mehr, ist er nun Journalist oder Politiker. Das brachte ihn auf die schiefe Bahn, wie es bei allen ausländischen Jugendlichen der Fall ist." Den Einwand, dass Seibert kein ausländischer Jugendlicher ist und die auch nicht alle kriminell würden, wischt Pfeiffer mit gewohnter Wurschtigkeit beiseite: "Ach was!"
Vernünftigere Kräfte beschäftigen sich inzwischen mit den tatsächlichen Motiven, die Seibert veranlasst haben, hunderte Autos abzufackeln, wie ihm die Staatsanwaltschaft mittlerweile zur Last legt. Einen Hinweis könnten die von Seibert zuletzt versandten Twitter-Mitteilungen geben. Darin zitiert der Regierungssprecher einen Artikel des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher, der kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung den Kapitalismus derart heftig angriff, dass die Kapitalisten ganz erschüttert waren. Anscheinend wurde Seibert von der Kraft der Schirrmacher-Worte mitgerissen: "Schirrmacher! Wir folgen dir!", twitterte Seibert. Schirrmacher weist jedoch jede Verantwortung für Seiberts Taten zurück: "Ich würde es heute wieder genauso sagen." Auf die Frage, ob er sich jetzt Sorgen mache, weil er zum allerersten Mal etwas mit einem Text bewirkt habe, sagte der größte Feuilletonist aller Zeiten: "Das Einzige, worüber ich mir Sorgen mache, ist, dass ich es heut noch in die Freßgass schaff."
Wie es nun weitergeht mit Seibert, wer sein Nachfolger wird und ob die Kanzlerin erste Rücktrittsforderungen ignorieren wird, ist noch offen. Den besten Vorschlag für den Umgang mit dem Täter Steffen Seibert machte derweil auf "Spiegel Online" die Fernsehblondine Daniela Katzenberger: "Ich nehm den und resozisiere den … - oder wie das heißt. Der hat doch so süße blaue Augenringe."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Streit um Neuwahlen
Inhaltsleeres Termingerangel
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Überwachtes Einkaufen in Hamburg
Abgescannt
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
Obergrenze für Imbissbuden in Heilbronn
Kein Döner ist illegal