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Hungerstreik gegen Korruption in IndienParlament beugt sich Hazare

Der 74-jährige Anna Hazare beendet seinen zwölftägigen Hungerstreik. Zuvor hatte das Parlament seinen Bedingungen für ein Anti-Korruptions-Gesetz zugestimmt.

Er nimmt wieder Nahrung zu sich, auch wenn es vorerst nur Kokosnusssaft mit Honig ist: Anna Hazare. Bild: dpa

DELHI taz | An normalen Sonntagen geht Sonu Tomar arbeiten. Er ist Werkzeugmacher in einem der jahrhundertealten Basare Delhis. An diesem Sonntag aber hat sich der 32-Jährige freigenommen. Um sechs Uhr stand er in seinem Armenviertel hinter dem Yamuna-Fluss auf und ging zum Tempel. Dann weckte er die Seinen. Alle mussten mitkommen: Frau, drei Kinder, zwei Tanten und eine Nachbarin. Die vier Frauen legten sich ihre schönsten Saris an. Zu acht bestiegen sie eine Motorrad-Rikscha mit Sitzen für drei Personen und zahlten 70 Rupien, umgerechnet mehr als einen Euro. Das war viel Geld für den Werkzeugmacher Tomar.

Doch jetzt ist er überglücklich. Bemalt in den indischen Farben, ausgestattet mit der Nationalfahne und Nehru-Kappen mit der Aufschrift "Ich bin Anna" hockt seine Familie mitten in der Menschenmenge auf Delhis großem Festplatz. Tomar strahlt, als er seine Frau neben ihm sprechen hört: "Nicht in meinen wildesten Träumen habe ich mir vorgestellt, dass ein alter Mann wie Anna sich so für uns einsetzen könnte. Nie hätte ich gedacht, dass eine solche Protestbewegung möglich wäre. Im tiefsten Herzen bin ich heute glücklich", sagt die 31-jährige Bijay Tomar. Sie ist eine einfache, arme Frau. Aber sie kann in diesem Moment mühelos eine Rede halten.

Nicht weit entfernt, auf der Steinbühne vor dem Gandhi-Porträt, sitzt Anna Hazare. Es ist jetzt 10 Uhr. 288 Stunden hat Hazare bis zu diesem Moment dort oben neben seinen drei weißen Rollkissen gelegen und gefastet. Zu behaupten, dass sein Bild in dieser Zeit durch die Welt gegangen ist, wäre übertrieben. Dazu interessiert sich die Welt derzeit zu wenig für Indien, einem wirtschaftlich stabilen Land inmitten der erneuten internationalen Krise.

Doch sein Bild erreichte jeden indischen Milliardärspalast, jede indische Arbeiterstube und jede indische Bauernhütte. Es erreichte Hausfrauen wie Bijay Tomar und sogar Kinder: "Ich sehe Anna. Er ist ein guter Mann", sagt Sneha, die elfjährige Tochter der Familie Tomar. Sie trägt ein Kleid mit goldenen Streifen über den Schultern und silberne Sandalen.

"Lang lebe Indien"

Sie schaut genauso hingerissen auf den alten Mann wie die zwei kleinen Mädchen, Simran und Ikrah, die erste eine Unberührbare, die zweite eine Muslima, die oben auf der Bühne einen silbernen Becher gefüllt mit Kokosnusssaft und Honig in ihre Hände nehmen und ihn Hazare überreichen. Der alte Mann trinkt. Sein Hungerstreik ist beendet. Die Menge auf dem Festplatz singt: "Lang lebe Indien!"

Es ist das vorläufige Happy End der - gemessen an den Zahlen der Demonstranten - größten sozialen Bewegung, die Indien seit der Unabhängigkeit erlebt hat. "Anna siegt für das Volk", titelt am Morgen die Times of India, die größte englischsprachige Tageszeitung der Welt. Eben noch regierte die Kongresspartei mit langjährig erprobten Koalitionspartnern und einem international angesehenen Regierungschef unangefochten das Land.

Der Ghandi-Effekt

Nun aber musste sich die Partei binnen Tagen einem alten Mann geschlagen geben, der Indiens gesamtes politisches System für korrupt hält und für den Fall, dass man seine Forderungen nicht erfüllt, mit einer Revolution droht. Dass die Inder Hazare Glauben schenken, macht der Gandhi-Effekt: "Anna macht das alles nicht für sich, da ist er wie Gandhi. Sonst hätte die Regierung seine Forderungen nicht erfüllt", sagt Tomar.

Die Niederlage von Regierung und Parlament ist komplett. "Geschichte wurde gemacht, als am Samstag beide Häuser des Parlaments vor Anna Hazare zu Kreuze krochen", schreibt die Times of India. Tatsächlich entschied das Parlament am Samstag per einstimmigen Beschluss aller Parteien, dass Hazares drei Bedingungen bei der Erarbeitung eines neuen Anti-Korruptions-Esetzes erfüllt werden sollen.

Nicht die Politik, sondern die Straße schrieb damit das neue Gesetz, in dem es um die Einrichtung einer unabhängigen Behörde zur Bekämpfung der chronischen Korruption in Indien geht. Es soll in der laufenden Legislaturperiode ausgearbeitet und verabschiedet werden.

Wie die Geschichte weitergeht? Ganz einfach: Tomar geht zurück in seine Werkstatt und Hazare zurück in sein Dorf Ralegan Siddhi in Westindien, wo er seit 30 Jahren in einem kleinen, bunten Tempel lebt.

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