Europa in der Schuldenkrise: Streit über Finanzreformen
Die EU-Mitgliedsländer drücken sich weiterhin vor klaren Regeln für Defizitsünder. Strafen sollen auch in Zukunft nur über eine qualifizierte Mehrheit verhängt werden können.
BRÜSSEL taz | Die EU-Mitgliedsländer drücken sich weiterhin vor grundlegenden Reformen der europäischen Finanzpolitik und strengen Strafen für Defizitsünder. Sie verstecken sich lieber hinter komplizierten Abstimmungsregeln. Das geht aus einem Kompromissvorschlag hervor, den die polnische EU-Präsidentschaft dem Europäischen Parlament vorgelegt hat.
Demnach wollen die Mitgliedstaaten auch in Zukunft die nur schwer erreichbare qualifizierte Mehrheit beibehalten, wenn es darum geht, ob Defizitsünder mit Strafzahlungen belegt werden sollen. Nur wenn ein Land binnen drei Monaten nicht auf die Mahnung aus Brüssel reagiert, kann die Europäische Kommission dem Rat den Fall ein zweites Mal zur Entscheidung vorlegen. Erst dann soll die einfache Mehrheit reichen, um die Voraussetzungen für Sanktionen zu schaffen.
Im Europäischen Parlament stößt dieser Kompromiss auf Ablehnung: "Dieser Vorschlag ist der kleinstmögliche Schritt", sagte der finanzpolitische Sprecher der Grünen Sven Giegold. "Die Kommission wird davor zurückschrecken, sich eine blutige Nase im Rat zu holen. Von quasiautomatischen Entscheidungen wie von Merkel und Sarkzoy versprochen sind wir weit entfernt." Giegold geht nicht davon aus, dass die Kommission den Mut haben wird, nach einer ersten Ablehnung durch die Mitgliedstaaten drei Monate später einen neuen Versuch zu starten.
Angst vor Sanktionen
Eine qualifizierte Mehrheit war bei den bisherigen Entscheidungen nie zustande gekommen, weil Frankreich und Deutschland im Rat blockiert haben, aus Angst, auch selbst von Sanktionen betroffen zu sein. Die beiden EU-Riesen haben bei diesem Abstimmungsmodus als bevölkerungsreichste Staaten mehr Gewicht, da 55 Prozent der Staaten zustimmen müssen, die zugleich mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren.
Jetzt muss das Europäische Parlament über den neuen Kompromissvorschlag entscheiden. Der SPD-Abgeordnete Udo Bullmann ist nicht sicher, ob es für solch einen "Kuhhandel" eine Mehrheit geben wird. "Diese Diskussion ist Kaffeesatzleserei, während draußen die Welt zusammenstürzt. Es geht bei der Krise schon lange nicht mehr um solche Kleinigkeiten."
Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) strebt einem Zeitungsbericht zufolge unterdessen weitreichende EU-Reformen an, die auch eine Neufassung des EU-Vertrages beinhalten könnten. Wie die Bild-Zeitung berichtet, will Schäuble als Antwort auf die Euroschuldenkrise mehr Zuständigkeiten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik an Brüsseler EU-Instanzen übertragen.
Leser*innenkommentare
Wolfgang
Gast
Strafzahlungen sind idiotisch!
Wer zu viele Schulden macht, soll mit Strafzahlungen belegt werden, auf das er noch mehr Schulden machen muss. Das ist so, als ob ein Dieb zur Strafe noch mehr klauen muss.
Automatisch Stimmrechte in der EU zu entziehen, ist die richtige Strafe. Die EU muss bei Schuldensündern die Haushaltsrechte bekommen. Das ist die gerechte Strafe ("Entmündigung"). Das tut wirklich weh.