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Luft, die nach Freiheit schmeckte

Die Dokumentation „Die 50er Jahre“ markiert erst den Anfang: Die 50er rücken ins Zentrum vergangenheitspolitischer Rezeption. Das Interesse der Filmemacher gilt den nichtelitären Zeitzeugen und deren entschlossenem Willen zur Freiheit

VON JAN FEDDERSEN

Er wollte niemandem auf die Nerven fallen, schreibt Regisseur Jan Schütte in dem Buch zu seiner Serie „Unsere 50er Jahre“. Aber alle Gesprächspartner, die in den sechs Teilen der ARD-Dokumentation mit dem Untertitel „Wie wir wurden, was wir sind“ nun auch öffentlich zu Wort kommen, überraschten ihn offenbar angenehm: „Meine Gastgeber wollten erzählen, unbedingt und ganz. Sie waren glücklich über meine Fragen und mein Interesse.“ Und was sie zu überliefern haben, ist erstaunlich gegen alles, was üblicherweise über dieses Jahrzehnt geschrieben wird – vor allem seitens jener Generation, die sich als die der Achtundsechziger wahrnimmt und dies, mehr oder weniger, als Siegel für die beste aller Nachkriegsgenerationen genommen haben möchte.

Die da Jan Schütte Zeugnis ablegen, sind von allerdurchschnittlichstem Kaliber. Männer und Frauen, heute meist in den mittleren Sechzigern, ohne Spur von Prominenz. Kriegskinder, Überlebende, die die „Wirtschaftswundergeneration“ verkörperten – die noch eine sehr präzise Erinnerung an jene Jahre haben, als sie noch sehr jung waren und doch genau wussten, was der Unterschied zu jenem Regime ist, das ihre Eltern wohl meist noch mitgetragen hatten: der nämlich ums Ganze, der Freiheit heißt und als Chance von den jungen Bundesdeutschen (und ihren Eltern) erkannt wurde.

Die ARD, die die dritte Folge heute Abend um 21:45 Uhr zeigt, konnte mit den ersten beiden Teilen feine Quoten erzielen. Bis zu fünf Millionen Menschen schauten zu – weil die Reihe wohl auch die Genese ihrer eigenen Leben viel mehr spiegelt als die gewöhnlichen Reden von den Fuffzigern, die im Bewusstsein der Achtundsechziger falsche waren, muffig, adenauerhaft, dumpf, nazikontaminiert, bräunlich, undynamisch und immobil.

Vom Gegenteil berichten die Zeitzeugen den Regisseuren Thomas Kufus und Jan Schütte. Auch ist die Rede von Trümmern, von Müttern, deren Männer in Kriegsgefangenschaft waren, von Männern, die nach Hause kamen, von Nationalsozialisten ebenso wie von postbrauner Kameraderie. Aber das weiß man ja ohnehin, doch „Unsere 50er Jahre“ belegt die Gärung einer anderen Republik, belegt die Dynamik nicht allein der ökonomischen, auch die unterhalb der akademischen und politischen Eliten. Sie verdichtete sich in erster Linie in dem Credo „Du darfst“. Einer sagt in dem Film: Man hatte nicht viel zu essen, der Krieg war den Erwachsenen ein Thema, aber man wusste, dass die Luft anders schmeckt, nach Freiheit. Kein HJ-Zwang, keine weltanschaulichen Zwänge, kein Drill überhaupt, überall das Alte, das Vergiftete, aber zugleich überall Möglichkeiten, es anders zu probieren. Besonders rührend die Erzählung eines Mannes, der sich eines Tages auf den Weg machte, mit dem Fahrrad, um viele Tage zu fahren, damit Fritz Walter ihm ein Autogramm gebe. Und in seinem Ton der Erzählung ist auch die Lust noch zu hören, wie kostbar diese Zeit ihm scheint: Ich konnte meiner eigenen Wege gehen.

„Unsere 50er Jahre – Wie wir wurden, was wir sind“ ist ein dokumentarischer Glücksfall. Insgeheim auch eine Rehabilitation jener Generation, die noch in Trümmern spielte und, man sieht es auf leuchtenden Bildern, Gefallen an all dem fand, was das Leben so parat halten könnte. Eine Konstruktion von Oral History, die, einseitig vielleicht, zwar nicht das große Ganze im Sinn hat, was für solch ein Projekt aber auch nicht nötig war: Die klassische Darstellung – (Falsche) Fuffziger? Bäh! – gibt es ja längst.

Dass sich nun die nichtelitäre Historie durchsetzt, nimmt vielleicht nicht wunder. Die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann wies jüngst erst auf einer Tagung zur Kriegskindergeneration in Loccum darauf hin, dass die Fünfzigerjahre rezeptionell fruchtbar werden: Jede Zeit brauche zwei Generationen Abstand, um sich selbst, durch und mit ihren Trägern, in den Blick nehmen zu können. Das war im Übrigen auch schon mit der Holocaust-Ära so: Erst 1979, mit der gleichnamigen TV-Serie, konnte Deutschland seine Verbrechen im Diskurs von Millionen, nicht nur von Experten zur Kenntnis nehmen.

Die deutsche Selbstüberlieferung zum „Tausendjährigen Reich“ war vielleicht im Zenit mit dem 8. Mai 2005, als Bundespräsident Horst Köhler das Holocaust-Stelenfeld einweihte. Jetzt würde eine andere Vergangenheitsdebatte folgen – und sie kündigte sich bereits vor einem Jahr an, als der Aufruf zu einem Kongress über die Generation der Kriegskinder in Frankfurt am Main binnen wenigen Wochen „ausgebucht“ vermelden musste. Da kündigten sich andere Rede- und Dialogbedürfnisse an: Es war und ist jene Generation, deren Eltern unter nationalsozialistischem Regime lebten – und die selbst über die Fünfziger als demokratische Leistung nun zu sprechen beginnen.

Das Irritierende an Kufus’ und Schüttes Dokumentation ist ja auch, dass ihre HeldInnen nicht so tun, als hätten sie bewusst, mit politisch ausgefeilter Programmatik etwas getan – und als ließe sich die Bundesrepublik heutiger Zeit, ein demokratischer, liberaler Rechtsstaat, als notwendiger Erfolg begreifen. In Wirklichkeit, auch dies sagen die Bilder wie ihre Worte dazu, war die Situation stets prekär. Alles war ja noch da: das Nationalsozialistische, seine Moralen, seine Ethiken, seine Alltagsgrundierungen. Zugleich aber gab es das Grundgesetz, ein Dokument, 1949 in Kraft getreten: ein Versprechen, ein Cluster von Möglichkeiten. Wolfgang Kraushaars „Protestchronik“ der 50er-Jahre belegt erschöpfend, wie sehr ebendeshalb diese erste Dekade der Bundesrepublik sich von jener zuvor unterschied. Man protestierte, meckerte, intervenierte, prügelte und haderte mit dem neuen gesellschaftlichen Aggregatzustand. Da melden Gewerkschaften und Friedensbewegung ihre Ansprüche an, dort versuchten Gestrige das sittliche Fundament der braunen Jahre zu rehabilitieren.

Es gab hunderte von Millionen Anlässen, diese braune Gefahr für realistisch zu halten. Bis auf wenige Inhaftierte waren sie ja alle noch da, die Denunzianten, Kleinkrämer, PGs und dem Führer ewig Unterwürfigen. Der Unterschied aber zu einer pädagogischen Republik, die ihren Staatsbürgern einen anderen Glauben verordnet, war, dass jeder Fortschritt hart erkämpft werden musste – die Generation der Achtundsechziger machte nur konsequent weiter, was in den Fünfzigern begann: die Liberalisierung und Informalisierung aller Lebensformen, den Abschied vom Untertan, wie ihn Heinrich Mann einst charakterisierte.

Das Grundgesetz schrieb ja die Gleichberechtigung von Mann und Frau fest – aber erst 1959 war es Ehefrauen erlaubt, ohne Zustimmung ihrer Gatten so genannte Haustürgeschäfte zu tätigen. Kinder wurden in jenen Jahren noch als familiäres Kanonenfutter gehalten – und doch war preußische Zucht und Ordnung als Erziehungsprinzip moralisch kaum mehr haltbar; über Sexuelles wurde zu reden begonnen, ohne gleich an Mutterkreuz denken zu müssen. Die jungen Deutschen – auferstanden aus Ruinen? Auch. Nichts war frei, weil nur wenige die neue Freiheit nutzten oder um sie eisern streiten mussten; aber eines wussten die Alten genau: dass die alten Zeiten nicht wiederbelebt werden können.

Die Dokumentation ist der vernehmlichste Auftakt eines neuen vergangenheitspolitischen Diskurses. Eine Verständigung darüber, wie riskant die amerikanisch getaktete Operation „Democracy in Germany“ war. 1949 war nur der Krieg vorbei – und alle Chancen waren gegeben. Immerhin: Aus dem Rest haben die Deutschen vieles gemacht. Die ProtagonistInnen in der ARD-Dokumentation wirken in all ihren Bemerkungen nüchtern, froh – und, ohne dies je zu formulieren, stolz auf ihr Erreichtes: Ihr Gefühl liegt völlig richtig.

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