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die wahrheitSprich, Stille, sprich

Mitte der Neunziger Jahre bot ein amerikanisches Elektronikunternehmen ein neuartiges Produkt an: ein Fernsehgerät für unterwegs ...

Das völlig reizlose Testbild bekommt eine ganz neue Funktion und dient der beschaulichen Betrachtung. Bild: dapd

... - mit Batterien, aber ohne Bildschirm. Gedacht war die Glotze ohne Glotze für Serienfans, die ihre Lieblingsserien nicht verpassen wollten und so zumindest die Dialoge hören konnten. Durchgesetzt hat sich der bildschirmlose Fernseher nicht, und so dient er heutzutage allenfalls als weiterer Beweis für den Niedergang der amerikanischen Industrie. Dabei bräuchte die Menschheit gerade jetzt ein solches Meisterwerk des Erfindergeistes, nimmt es doch eine Idee vorweg, die bald schon die Zukunft prägen könnte: die Reizunterflutung.

Nur so ließe sich der Untergang des amerikanischen Imperiums aufhalten - mit Hilfe von Apple, das wie ein kalifornischer Fels in der globalen Brandung steht. Apple müsste das vergessene Gerät wieder auflegen, den bildschirmlosen Fernseher iLess nennen und zum Kultobjekt machen. Apple-Jünger kaufen schließlich alles. Und so könnte man nach dem Vorbild des iLess viele außergewöhnliche Produkte entwerfen, sogar eine ganze Industrie entstehen lassen, die brandneue Bedürfnisse der Konsumenten weckt und befriedigt: das iPhone ohne Telefon, das iPad ohne Touchscreen, die App ohne Funktion.

Der Telefonierer müsste nicht mehr in seinen Fernsprecher hineintönen; der Tablet-PC-Nutzer könnte stundenlang folgenlos mit dem Finger über das Gerät wischen; und der App-Anwender würde nichts, rein gar nichts mehr anwenden. Einziger Sinn und Zweck der technischen Übung wäre die Stille, die Leere, das Nirwana, der Austritt aus dem Kreislauf des elektronischen Leidens. Buddha, alte Speckschwarte, dein mediales Reich komme …

Eine herrliche Zeit der Reizunterflutung bräche an: Gedenktage würden künftig ohne die Bilder der bedeutenden Ereignisse zelebriert. Statt tausende Male Zeitlupen von in Wolkenkratzer stürzenden Flugzeugen zu zeigen, würde das gute, alte Testbild ausgestrahlt, das mit seinen geometrischen Kästen und Linien nicht mehr nur zur ordnungsgemäßen Herstellung des Sendebetriebs diente, sondern vielmehr zur Kontemplation. Zehn Minuten auf ein Testbild zu starren, ersetzt vermutlich zehn Therapiesitzungen bei einem Psychiater.

Die große Erklärmaschine namens Medien wäre ihres Schwungrads beraubt und würde zum Stehen kommen. Die Ferndiagnostiker, Fachleute und Experten auf den Gebieten Terror, Katastrophe und Prominente würden für immer verstummen.

Weit über den medialen Kreis hinaus aber würde die auf allen Kommunikationskanälen erreichte Reizunterflutung auf die Welt wirken. Amokläufe würden ohne Attentäter und Opfer stattfinden. Unglücke würden auf lästige Folgen wie beispielsweise austretende Radioaktivität verzichten. Die Welt würde Börsenkrisen ohne Aktien, Eurokrisen ohne Geld, Griechenlandkrisen ohne Griechen überwinden.

Und über allem würde ein Flugzeug mit dichtem weißen Rauch eine Botschaft in den bonbonblauen Himmel schreiben, die sich zu den Worten verdichtet: "Sprich, Stille, sprich".

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3 Kommentare

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  • KK
    Karl K

    Danke für das schöne Testbild . Was machen eigentlich Werner Enke und seine Schriftstellerjoppe ?

  • KK
    Karl K

    Danke für das Testbild. Was macht eigentlich Werner Enke und die Schriftstellerjoppe,

  • BA
    bitte anonym

    Kein Scherz, als ich beim lesen genau an dieser Stelle angekommen bin

     

    >Gedenktage würden künftig ohne die Bilder der bedeutenden Ereignisse zelebriert. <

     

    fing ein kleines Maedchen im Nachbarhaus an ein Weihnachtslied zu singen = " It's the season to be jolly, lala la la laa, la la la la...