Weltpremiere in Bolivien: Wahl der Richter durch das Volk
Weltweit erstmals werden Sonntag in Bolivien die höchsten Justizämter vom Volk gewählt. Die Abstimmung ist auch ein Stimmungstest für die Regierung.
BUENOS AIRES taz | In Bolivien findet am Sonntag eine Weltpremiere statt. Erstmals in der Geschichte eines Landes werden die wichtigsten und höchsten Richterämter in freien, geheimen und direkten Wahlen vergeben.
Rund 5,2 Millionen stimmberechtigte BolivianerInnen werden über die Besetzung der Ämter beim Verfassungsgericht, dem Obersten Gerichtshof, dem Umweltgerichtshof und über die Mitglieder des Consejo de la Magistratura entscheiden, einem Kontrollrat, der über die Arbeit von RichterInnen und StaatsanwältInnen wacht. Die Wahl der höchsten Justizämter ist in der seit Februar 2009 geltenden Verfassung vorgeschrieben.
Dem bisher erst- und einmaligen Wahlgang in Bolivien mögen noch die Wahlsysteme in den USA und in Japan am nächsten kommen. In 39 US-Bundesstaaten werden knapp 90 Prozent der RichterInnen auf lokaler Ebene vom stimmberechtigten Bevölkerungsanteil gewählt. In Japan werden die RichterInnen vom Gerichtshof bestimmt und von der Bevölkerung durch eine Abstimmung bestätigt oder abgelehnt.
Für die 56 Ämter in Bolivien stellen sich 116 KandidatInnen zur Wahl. Und um das vorgeschriebene Geschlechtergleichgewicht einzuhalten, sind es jeweils zur Hälfte Männer und Frauen. Nach Angaben der Plurinationalen Versammlung (Asamblea Legislativa Plurinacional), dem nach der neuen Verfassung benannten Kongress, sind von den 116 KandidatInnen zudem 35 Prozent VertreterInnen von indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften.
Der Kongress nominiert – die Opposition kritisiert
Die KandidatInnen sind allesamt von der Asamblea Legislativa Plurinacional bestimmt. Hier liegt für die Kritiker der Justizwahl der Haken. Während die Regierung den überparteilichen Charakter der Wahl betont, spricht die Opposition von einer Übernahme der Justiz durch die KandidatInnen der Regierungsmehrheit. Fakt ist, dass alle Nominierten mit der Stimmenmehrheit der Regierungspartei von Präsident Evo Morales benannt wurden.
Die in der Plurinationalen Versammlung vertretene Opposition hat nicht nur für keineN der KandidatInnen votiert, sondern auch zum Wahlboykott aufgerufen. Sie befürchtet, die Justiz werde zukünftig einer der Hebel sein, mit dem sich Präsident Morales die Möglichkeit einer weiteren Amtszeit schaffen werde. Der so Gescholtene reagierte mit dem Hinweis, dass in der Vergangenheit die politisch und wirtschaftlich Mächtigen die Justizposten unter sich ausgehandelt hätten, um ihre Machenschaften mit entsprechenden Gesetzen und Richtersprüchen abzusichern. Mit der neuen Verfassung sei damit jedoch Schluss gemacht worden.
Längst ist die Abstimmung am Sonntag aber auch ein Stimmungstest für die Regierung. Wegen der seit Wochen anhaltenden Auseinandersetzungen wegen des Baus einer Fernstraße im Amazonasgebiet ist die Regierung unter Druck geraten. Anfang Oktober hatten 500 Polizisten einen Protestmarsch gegen den Bau einer Fernstraße im Amazonasgebiet gewaltsam aufgelöst.
Seit Mitte August protestieren Tieflandindianer gegen den Bau eines Streckenabschnitts durch das Natur- und Indianerschutzgebiet Isiboro-Sécure in Amazonien. Evo Morales, der erste indigene Staatschef, entschuldigte sich daraufhin bei den Marschierern und setzte das Projekt aus.
Am Mittwoch demonstrierten Zehntausende für Morales. Unter dem Motto "Der Wandel ist unumkehrbar" waren vor allem indigene und kleinbäuerliche Gruppen und Minenarbeiter in einem Sternmarsch durch die Städte La Paz und El Alto gezogen. "Ich bin nicht allein", rief der Präsident den Menschen auf der Plaza Villarroel in La Paz zu. Das Volk hat sich mobilisiert, um die demokratische und kulturelle Revolution zu verteidigen, so der Staatschef. Die Wahl am Sonntag werde einen neuen Beweis dafür liefern, erklärte Morales.
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