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Arbeitskampf in NiedersachsenKirchengewerkschaft gegründet

In Niedersachsen wollen Beschäftigte der evangelischen Kirche eine eigene Gewerkschaft gründen. Ver.di warnt vor"Etikettenschwindel": Die neue Konkurrenz will an den Sonderrechten der Kirche festhalten.

Von verschiedenen Gewerkschaften umworben: der Kirchenmitarbeiter als solcher. Bild: dpa

HANNOVER taz | In die wachsende Kritik an den Arbeitsbedingungen der evangelischen Kirche mischt sich eine neue Stimme: In Niedersachsen wollen Mitarbeiter eine eigene Gewerkschaft gründen. Ende Oktober will sich der Mitarbeitervertretungsverband (MVV) in eine Kirchengewerkschaft umwandeln, um mit den Arbeitgebern "auf Augenhöhe" verhandeln zu können, kündigt der Vorsitzende Werner Massow an.

1.200 Mitglieder hat der bislang als Verein organisierte MVV nach eigenen Angaben. Etwa gleich viele Mitglieder zählt die Gewerkschaft Ver.di unter den knapp 40.000 Mitarbeitern in Kitas, Beratungsstellen, ambulanten Pflegestationen und der Verwaltung der niedersächsischen Landeskirche Hannover, Oldenburg und Braunschweig.

Anders als Ver.di will sich der MVV aber am sogenannten dritten Weg beteiligen: Teile des staatlichen Arbeitsrechts gelten demnach für Mitarbeiter von Kirchen und kirchlichen Wohlfahrtsverbänden nicht. Streiks sind ausgeschlossen, Tarifverträge gibt es nicht. Löhne und Arbeitsbedingungen werden in Kommissionen ausgehandelt, die paritätisch mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern besetzt sind. Hier sitzen meist ehrenamtlich engagierte Mitarbeiter Kirchenprofis, Juristen und Personalmanagern gegenüber - ein Ungleichgewicht, das sieht auch Massow.

Kritik am Arbeitgeber Kirche

Die Kirchen verstehen sich als "Dienstgemeinschaft", in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen gemeinsamen christlichen Auftrag ausführen - mit Streiks Druck auszuüben passe nicht dazu.

Als Wettbewerbsvorteil gegenüber nichtkirchlicher Konkurrenz sehen das Kritiker wie Ver.di: Mit Dumpinglöhnen und Leiharbeitsfirmen agierten Kirchen wie normale Arbeitgeber, seien aber nicht an Tarifverträge gebunden.

Am absoluten Streikverbot gerüttelt hat das Landesarbeitsgericht Hamm im Frühjahr: Das Verbot sei "unverhältnismäßig", da nicht alle Kirchenbeschäftigten die christliche Überzeugung vom "Dienst am Nächsten" teilen.

Druck übt Ver.di seitdem vor allem auf die Diakonie aus: Ende September gab es Warnstreiks, in Niedersachsen erstmals auch in diakonischen Krankenhäusern.

In Niedersachsen sind Gehaltsverhandlungen erst kürzlich gescheitert: An den letzten Tarifabschluss für den Öffentlichen Dienst des Landes vom April haben die Kirchen ihre Gehälter bislang nicht angeglichen - obwohl Arbeitgeber und -nehmer schon vor gut anderthalb Jahren ausgehandelt hatten, dass sich die Löhne an den Öffentlichen Dienst in Niedersachsen anlehnen sollen.

"Dass es ungerecht zugeht, liegt auch an uns, weil wir nicht hinreichend organisiert sind", sagt Massow. Als Gewerkschaft könne sich der MVV professionalisieren, Mitgliedern Rechtsschutz bieten und ein "klares Gegenüber" für die Kirchen sein. Langfristig soll sich die Kirchengewerkschaft nach Massows Vorstellung nicht auf Niedersachsen und die evangelische Kirche beschränken. Ihm schwebt eine bundesweit aktive "Vereinigte Kirchengemeinschaft" vor.

Für Ver.di-Fachsekretärin Annette Klausing ist das schlicht "Etikettenschwindel" - der durchaus schaden könne: "Je mehr Arbeitnehmerorganisationen es gibt, desto schwächer werden sie und desto besser kann der Arbeitgeber sie gegeneinander ausspielen", warnt sie.

Vier Jahre lang hat Ver.di in Niedersachsen selbst Mitglieder in die Kommissionen entsandt. Im Frühjahr zog man sich zurück. "Wir haben immer weniger Möglichkeiten gesehen, dort etwas zu erreichen", sagt Klausing. Ver.di habe auch alle anderen Arbeitnehmerorganisationen zum Rückzug vom dritten Weg aufgefordert - vergeblich. Gemeinsam hätte man Tarifverträge, geregelte Arbeitsbeziehungen und Rechtssicherheit erzwingen können, sagt Klausing.

MVV-Chef Massow, selbst Ver.di-Mitglied, lehnt einen solchen "Boykott von außen" ab. "Das System kann man nur von innen über den mühsamen Weg durch die Institutionen ändern", sagt er. Tarifverträge, so ist sich Massow sicher, könne man auch über den dritten Weg erreichen. Druckmittel wie etwa eine Streikkasse sind für seine neue Gewerkschaft entsprechend nicht vorgesehen.

Die evangelischen Landeskirchen sehen das Gewerkschaftstreiben "mit Interesse". Mit der neuen Gewerkschaft werde man "genauso partnerschaftlich wie zuvor" zusammenarbeiten.

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10 Kommentare

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  • TW
    Teodor Webin

    Ver.di muss natürlich gleich wieder auf die Tarifeinheitspauke hauen. Viele Gewerkschaften wären gegeneinander ausspielbar - nun, das hat ver.di ja im Fall Babylon selber vorexerziert.

    Nichtsdestotrotz klingt das nach Spaß bei den Arbeitsgerichten. Mögen die Kirchenapologeten ihre eigene Gewerkschaft gründen, das Recht haben sie nach GG Art. 9. Aber: Tariffähig sind sie nicht, wenn sie keine Streikkasse haben und das Mittel "Streik" von vornherein ablehnen. Zu einer Gewerkschaft gehört auch eine gewisse Kampfbereitschaft...

  • I
    Ich

    "Mitarbeiter, sofern sie nicht Pastoren sind, werden gegenüber dem normalen öffentlichen Dienst massiv benachteiligt. "

     

    @docvonstock: Da kommt der Atheist aus dem Lachen kaum raus.

  • D
    docvonstock

    Ich nehme einmal an, es handelt sich da um Mitglieder der Hannöverschen Landeskirche. Die gibt es aber nicht nur in Niedersachsen. Auch die Braunschweigische Landeskirche deckt ein größeres Territorium ab. Wozu eigentlich dieser Aufwand? Wenn es nach dem Braunschweigischen Bischof ginge, dann gäbe es in der Kirche sowieso nur noch ehrenamtliche Mitarbeiter. Festangestellte werden in Wolfenbüttel nur als "Altlasten" bezeichnet. Der dritte Weg erledigt sich von selbst. Ver.di hätte bereits vor Jahren diesen üblen "dritten Weg" bekämpfen sollen. Mitarbeiter, sofern sie nicht Pastoren sind, werden gegenüber dem normalen öffentlichen Dienst massiv benachteiligt.

     

    Aber das ist ja alles längst bekannt. Wahrscheinlich ist für die "besseren" Angestellten eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft viel zu proletenhaft. Amtskirche lebt nicht umsonst auf einer Insel, auf der das Leben im 19. Jahrhundert stehen geblieben ist.

  • W
    wauz

    Au weia!

     

    Ausgerechnet ver.di, die selbst der größte Etikettenschwindel ist, macht hier auf Rächer der Gegerbten. Die schiere Zahl der Mitglieder hat nur Einfluss auf die Gehälter der Funktionäre, aber auf die Kampfkraft, bzw. den Kampfeswillen wirkt sie sich nicht aus. Gerade ver.di führt, bezogen auf die Gesamtzahl ihrer Mitglieder in den vielen angeblich vertretenen Branchen, gar keine Arbeitskämpfe mehr. Bis auf ein paar Show-Trucks und ein bisserl Winke-Winke im Einzelhandel passiert nichts mehr. Was ist aus der ÖTV geworden?

    Was, bitte, hat ver.di je für Zeitarbeiter unternommen? Es war ja gerade ver.di zusammen mit der IGM, dem DGB und noch ein paar Einzelgewerkschaften, die mit diesen völlig überflüssigen Tarifverträgen in der Leiharbeit angefangen hat.

    Immer wieder tauchen in der Diskussion die angeblichen Christlichen Gewerkschaften auf. Es ist inzwischen gerichtlich festgestellt, dass diese Geister keine Gewerkschaften sind. Immerhin hat ver.di das erreicht. Aber wirklichen Nutzen hat es für niemanden. Der Tarifunsinn, der nur als Lohndeckelung funktioniert, bleibt ja bestehen.

    Ob diser Verein jetzt tatsächlich das Zeug zu einer Gewerkschaft hat, kann man ja bezweifeln, aber die Chancen, dass so etwas erreicht wird, stehen jedenfalls nicht schlechter als bei ver.di.

  • W
    Wenstruba

    Die gibt es doch schon und die haben hier in Berlin die schlechtesten Mindestlohntarife im Zeitarbeitsegment ausgehandelt. Ich habe 2006 darunter gelitten. Verstehe ich nicht!

  • TW
    Teodor Webin

    Ver.di muss natürlich gleich wieder auf die Tarifeinheitspauke hauen. Viele Gewerkschaften wären gegeneinander ausspielbar - nun, das hat ver.di ja im Fall Babylon selber vorexerziert.

    Nichtsdestotrotz klingt das nach Spaß bei den Arbeitsgerichten. Mögen die Kirchenapologeten ihre eigene Gewerkschaft gründen, das Recht haben sie nach GG Art. 9. Aber: Tariffähig sind sie nicht, wenn sie keine Streikkasse haben und das Mittel "Streik" von vornherein ablehnen. Zu einer Gewerkschaft gehört auch eine gewisse Kampfbereitschaft...

  • I
    Ich

    "Mitarbeiter, sofern sie nicht Pastoren sind, werden gegenüber dem normalen öffentlichen Dienst massiv benachteiligt. "

     

    @docvonstock: Da kommt der Atheist aus dem Lachen kaum raus.

  • D
    docvonstock

    Ich nehme einmal an, es handelt sich da um Mitglieder der Hannöverschen Landeskirche. Die gibt es aber nicht nur in Niedersachsen. Auch die Braunschweigische Landeskirche deckt ein größeres Territorium ab. Wozu eigentlich dieser Aufwand? Wenn es nach dem Braunschweigischen Bischof ginge, dann gäbe es in der Kirche sowieso nur noch ehrenamtliche Mitarbeiter. Festangestellte werden in Wolfenbüttel nur als "Altlasten" bezeichnet. Der dritte Weg erledigt sich von selbst. Ver.di hätte bereits vor Jahren diesen üblen "dritten Weg" bekämpfen sollen. Mitarbeiter, sofern sie nicht Pastoren sind, werden gegenüber dem normalen öffentlichen Dienst massiv benachteiligt.

     

    Aber das ist ja alles längst bekannt. Wahrscheinlich ist für die "besseren" Angestellten eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft viel zu proletenhaft. Amtskirche lebt nicht umsonst auf einer Insel, auf der das Leben im 19. Jahrhundert stehen geblieben ist.

  • W
    wauz

    Au weia!

     

    Ausgerechnet ver.di, die selbst der größte Etikettenschwindel ist, macht hier auf Rächer der Gegerbten. Die schiere Zahl der Mitglieder hat nur Einfluss auf die Gehälter der Funktionäre, aber auf die Kampfkraft, bzw. den Kampfeswillen wirkt sie sich nicht aus. Gerade ver.di führt, bezogen auf die Gesamtzahl ihrer Mitglieder in den vielen angeblich vertretenen Branchen, gar keine Arbeitskämpfe mehr. Bis auf ein paar Show-Trucks und ein bisserl Winke-Winke im Einzelhandel passiert nichts mehr. Was ist aus der ÖTV geworden?

    Was, bitte, hat ver.di je für Zeitarbeiter unternommen? Es war ja gerade ver.di zusammen mit der IGM, dem DGB und noch ein paar Einzelgewerkschaften, die mit diesen völlig überflüssigen Tarifverträgen in der Leiharbeit angefangen hat.

    Immer wieder tauchen in der Diskussion die angeblichen Christlichen Gewerkschaften auf. Es ist inzwischen gerichtlich festgestellt, dass diese Geister keine Gewerkschaften sind. Immerhin hat ver.di das erreicht. Aber wirklichen Nutzen hat es für niemanden. Der Tarifunsinn, der nur als Lohndeckelung funktioniert, bleibt ja bestehen.

    Ob diser Verein jetzt tatsächlich das Zeug zu einer Gewerkschaft hat, kann man ja bezweifeln, aber die Chancen, dass so etwas erreicht wird, stehen jedenfalls nicht schlechter als bei ver.di.

  • W
    Wenstruba

    Die gibt es doch schon und die haben hier in Berlin die schlechtesten Mindestlohntarife im Zeitarbeitsegment ausgehandelt. Ich habe 2006 darunter gelitten. Verstehe ich nicht!