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Kolumne Knapp überm BoulevardDer Rohstoff der Demokratie

Isolde Charim
Kolumne
von Isolde Charim

Jede Bewegung spielt prägende Urszenen nach - auch die Occupy-Bewegung. Kann man so die Welt verändern? Nein, aber es ist die Voraussetzung für eine Veränderung.

J e erfolgreicher die Occupy-Bewegung wird, desto lauter werden auch ihre Kritiker und Mahner. Da gibt es die Stimmen der Vernunft, die Strukturen, Organisationen, Parteien oder einen Marsch durch die Institutionen einfordern. Da gibt es jene, die verächtlich von Kinderkram sprechen. Oder Geneigtere, wie Slavoj Zizek, der in seiner Rede an der "Liberty Plaza" warnte: "Verliebt euch nicht in euch selbst, in die nette Zeit, die wir hier zusammen verbringen - Karnevalsfeste sind billig." Und so berechtigt all diese Einsprüche auch sind - der Gegensatz von hier Fest und warmes Gefühl des Zusammenseins und dort harte Realität, dieser Gegensatz, der sie alle leitet, stimmt so nicht.

Partizipation, dieses Zauberwort jeder Demokratiediskussion, besteht zu einem wesentlichen Teil im Gefühl, teilzuhaben. Das Gefühl, zu partizipieren, ist bereits Teil der Realität von Partizipation. Das ist gar nicht so verstiegen, wie es klingt. Bei einer Podiumsdiskussion im Wiener Kreisky-Forum erzählte Richard Sennett vor ein paar Tagen von seinem Besuch an der "Liberty Plaza". Er erzählte von den Älteren, die auch dort sind, mit ihrem Unmut, ihrem Unbehagen und ihrer Enttäuschung. Das sind enttäuschte Glückserwartungen ebenso wie enttäuschtes Vertrauen in die Politik. Allein dass sie da sind, ist bereits eine Veränderung. Denn sie bringen ihre Frustration zum Ausdruck und erfahren ein Moment der Anerkennung für sich als Person.

Und bevor man das jetzt als Augenwischerei abtut, als reine Selbsthygiene und politische Wellness, die von wirklichen Veränderungen ablenkt, sollte man bedenken: so funktioniert jede politische Bewegung. Und das Beste, was eine solche leisten kann, ist Gefühle nicht nur zu versammeln, sondern Emotionen zu verdichten an einem Ort, zu einem Moment.

Die Autorin

ISOLDE CHARIM ist Autorin der taz.

Genau das macht das Okkupieren. Und genau das erzeugt den Eindruck, an diesen Plätzen geschieht etwas, da bewegt sich etwas. Deshalb will auch jeder dabei sein. Prominente schmücken sich damit, dort gewesen zu sein, Theoretiker wollen dort reden oder erwähnen en passant, dass sie Grundsatztexte für diese Leute geschrieben haben.

"Demokratischer Sentimentalismus"

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev meinte angesichts dieser Emphase der Intellektuellen, es gäbe neuerdings einen "demokratischen Sentimentalismus" sobald mal fünftausend Menschen auf der Straße sind. Das unterstellt, frühere politische Bewegungen wären the real thing gewesen, heute hingegen würden wir jeden Karneval verklären. Aber war nicht schon dieses real thing eine Sentimentalität? Agieren politische Bewegungen nicht immer schon in "geborgten Kostümen", wie es bei Marx heißt?

Die Kleider passen nie. Jede Bewegung spielt prägende Szenen, gesellschaftliche Urszenen nach. Im besten Fall gelingt es dabei, neue, das heißt modernisierte Versionen von solchen politischen Urszenen zu entwickeln. Dazu müssen sie aber zum Ereignis werden, müssen vermitteln, dass hier tatsächlich etwas geschieht. Wenn das gelingt, geben sie nicht nur dem Einzelnen das Gefühl der Teilhabe, dann wird dieses Erlebnis auch exemplarisch.

Das ist der springende Punkt. Denn dann können andere sich in diesem Erleben wiedererkennen: die, die das von zu Hause aus verfolgen, ebenso wie andere Occupyer an anderen Orten. Jede kleine Versammlung wird zum Statthalter der weltweiten Occupy-Bewegung. So erhält die Realität von Gefühlen Wirksamkeit.

Denn das Verrückte ist, dass Protestierende nicht viel mehr als ihre Emotionen, ihre Wut, ihren Unmut, ihre Enttäuschungen den Mächten, die sie regieren, entgegenzusetzen haben. Aber das ist ein wertvoller demokratischer Rohstoff.

Kann man so die Welt verändern? Nein, aber es ist die Voraussetzung für eine Veränderung. All den Realisten sei gesagt: Ja, das ist blauäugig und naiv. Aber all die Vernunft von Parteien, Organisationen, Institutionen reicht offenbar nicht aus, um die entgleisende Situation in den Griff zu bekommen. Veränderung bedarf noch eines Anderen. Veränderung bedarf des Rohstoffs, den die Occupyer liefern. Danach kann dessen Verarbeitung kommen.

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1 Kommentar

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  • A
    anke

    Tatsächlich, Frau Charim, ist das so? "Will [...] jeder dabei sein", wenn Occupy einen Platz besetzt?

     

    Sagen Sie bitte: Welcher A-, B- oder C-Prominente genau hat sich schon öffentlich – sagen wir: bei RTL oder Sat1 – damit "geschmückt", dabei gewesen zu sein? Welcher Theoretiker von einiger Bekanntheit hat dort geredet oder einen bekannt gewordenen Grundsatztexte für "diese Leute" geschrieben? Und wo in der Internet-taz kann ich die entsprechenden Fotos ansehen, die Texte und Reden nachlesen?

     

    In der Rubrik "Zukunft" finde ich sie nicht. Auch nicht unter "Politik" oder "Theorie". Da geht es unter den jeweils ersten drei Überschriften um die Folgen des Klimawandels für die deutsche Berufs-Schifffahrt, den möglichen Zusammenhang zwischen Cola und Brutalität, Vorzeige-Mütter in Spitzen- Jobs, den Wahlsieg der Ennahda in Tunesien, das Ende des Runden Tisches zum sexuellen Missbrauch, die Schließung von Bundeswehrstandorten, einen Historiker-Streit von vor 25 Jahren, das Phänomen Islamophobie und die August-Krawalle in England. Gewiss, auch das sind wichtige Themen. Aber systemerschütternd sind sie nicht. Noch nicht jedenfalls.

     

    Sie haben sicher recht, Frau Charim: Veränderung bedarf eines Rohstoffs. Sie braucht Emotionen, das Gefühl, Teil von etwas zu sein. Aber wenn Occupy diesen Rohstoff liefert, dann findet die Bewegung offenbar nur sehr wenig Abnehmer dafür auf dem Medien-Markt. Und wie soll etwas verarbeitet werden, das aus Mangel an Interesse gar nicht erst gefördert wird?

     

    "Das Gefühl, zu partizipieren," schreiben Sie, sei "bereits Teil der Realität von Partizipation." Nein, verstiegen klingt das nicht in meinen Ohren. Nur erschreckend hohl. Ich habe nämlich Kübra Gümüsay gelesen und mich erinnert, wie das war, damals, als die Sehnsucht kam und ging. Mehrmals sogar. Einmal zu oft, will mir scheinen.

     

    Seither frage ich nicht mehr: Was kann ich für eine neue Bewegung tun? Ich frage: Was wird diese Bewegung mit mir anstellen? Und wenn ich mir nach Lektüre der Aussagen meiner potentiellen Mitstreiter sagen muss:"Sie wird den vielen Desillusionierungen meines Lebens nur noch eine weitere hinzu fügen", dann gehe ich auf Distance. Schließlich komme ich auch so schon kaum noch aus dem Bett, morgens.

     

    Meine ganz persönliche Realität von Partizipation, meine Partizipation an der Realität ist eine, die ich Ihnen, Frau Charim nicht wünsche. Ich habe nämlich das Gefühl, ich wäre bzw. hätte Teil von bzw. an etwas, was überaus unsinnig ist. Jeden einzelnen Tag wieder. Ob ich will oder nicht. Und so, wie es mir geht, geht es anderen Leuten auch. Diese Anderen schreiben Ihnen bloß nicht. Für die ist das, was Sie verfassen, nämlich nicht "knapp überm Boulevard", sondern entschieden zu hoch. Abgehoben geradezu.

     

    Oh nein, ich sehe mich nicht als Comicfigur. Die Kriminellen gehen mir am Arsch vorbei. Mich interessieren nur die, die vorgeben, etwas gegen Kriminelle zu haben. Das hier ist keine Hupe, sondern ein sehr persönlicher Brief. (Also bitte, liebe Redaktin, nicht veröffentlichen sondern weiterleiten! Wie war noch gleich Ihre Direkt-E-Mail, Frau Charim?) Und: Nein, ich mache mir keinerlei Illusionen mehr: Auch bei der Print-taz kommt allenfalls die Erzhexe von C. an, nicht der Erzbischof. Und selbst der wäre noch ein krasses Missverständnis.

     

    Aber was soll’s? Dabei sein ist alles, nicht wahr? Es sind eben doch die Gefühle, Idiot!