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Historiker Pohl über Holocaust"Wir reden von 200.000 Tätern"

Vor allem bei Morden an jüdischen Männern plagte sie überhaupt kein schlechtes Gewissen: Historiker Dieter Pohl über Täter im Nationalsozialismus.

"Die Wehrmacht hat vielfach bei Massenmorden abgesperrt und die Opfer registriert, sie schirmte den Holocaust ab." Bild: dpa
Interview von St. Reinecke und Chr. Semler

taz: Herr Pohl, gibt es den typischen deutschen Täter beim Völkermord im Osten nach 1941?

Dieter Pohl: Nein. Aber es gibt die Kerntätergruppen von SS und Polizei. Die sind hoch motiviert und ausgeprägte Antisemiten. Wir haben es mit Männern zu tun, die zwischen 30 und 45 Jahre alt sind. Sie gehören zur Kriegsjugendgeneration, die im Ersten Weltkrieg aufgewachsen ist, aber zu jung für den Krieg war. Diese Gruppe hat schon vor 1933 eine Affinität zum Nationalsozialismus und ist danach Teil des NS-Systems. Es gibt also biografische Muster.

Wie groß ist diese Tätergruppe?

dapd
Im Interview: 

DIETER POHL, geb. 1964, lehrt seit September 2010 als Professor für Zeitgeschichte mit besonderer Berücksichtigung Ost- und Südosteuropas an der Universität Klagenfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der NS-Massenverbrechen und Besatzungspolitik in Osteuropa sowie zur Geschichte der Sowjetunion und Polens.

Er ist Mitherausgeber der Dokumentation "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945", von der gerade der siebte Band erschien.

Ich schätze, dass wir beim Holocaust insgesamt von 200.000 Tätern reden, fast alles Männer. Der Anteil der Frauen ist verschwindend gering. Im Osten sprechen wir für die Zeit 1941 bis 1944 von mehreren zehntausend Tätern. Die größte Gruppe sind tatsächlich durchschnittliche Deutsche, die in der Wehrmacht, der Zivilverwaltung, der Ordnungspolizei arbeiten.

Ganz normale Deutsche, keine ausgeprägten Antisemiten?

Ja, wobei ja seit Mitte der 1930er die gesamte deutsche Gesellschaft dem verschärften Antisemitismus der Nazis folgt. Es gibt 1941 nicht mehr den NS-Ideologen hier und dort den Durchschnittsdeutschen, sondern hier den NS-Ideologen und dort Deutsche, die Antisemitismus für etwas Selbstverständliches halten, ohne ihm eine zentrale Bedeutung zu geben. Der Historiker Raul Hilberg hat schon 1961 geschrieben, dass die Täter verstanden, warum sie es taten. Das gilt auch für die Durchschnittstäter.

Hatten die Täter ein schlechtes Gewissen?

Das ist ex-post schwer zu sagen. Es gibt wenig brauchbare Aussagen von Tätern darüber. Ich denke, dass es bei der Ermordung jüdischer Männer keinerlei moralische Zurückhaltung gab. Als Herbst 1941 die massenhafte Tötung von Frauen und Kindern beginnt, empfinden - das zeigen Feldpostbriefe - viele Wehrmachtssoldaten das als Problem. Es gibt Diskussionen. Bei den Einsatzgruppen ist das anders. Dort gibt es keine Hemmung bei der Tötung von Kindern. Die Einsatzgruppen, deren Daseinszweck die Durchführung der Massaker sind, umfassten nur 3.000 Mann, die Polizeibataillone knapp 5.000.

Welche Rolle hat die Wehrmacht beim Holocaust gespielt?

Die Wehrmacht hatte nicht den Auftrag, die Juden umzubringen. Das zentrale Verbrechen der Wehrmacht war deren Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, die in ihrer Obhut waren und zu Millionen starben. Die Wehrmacht hat die besetzten Gebieten der UdSSR über weite Strecken beherrscht. Daher war sie direkt an der Enteignung, Entrechtung, Ghettoisierung der Juden beteiligt. Die Wehrmacht hat vielfach bei Massenmorden abgesperrt und die Opfer registriert, Wehrmachtssoldaten haben an Massakern teilgenommen. Die Wehrmacht schirmte den Holocaust ab.

Gab es Widerstand in der Wehrmacht gegen das Mitmachen beim Holocaust?

Es gab Einzelfälle, in denen Soldaten Juden gerettet haben, etwa Anton Schmid. Aber das war sehr selten. Wenig bekannt ist, dass die Wehrmacht im Hinterland fern der Front jüdische Zwangsarbeiter hatte. Da gibt es relativ viele Fälle, in denen die Wehrmacht zu Gunsten der Zwangsarbeiter interveniert hat.

Wissen wir alles über die Massenmorde der Nazis 1941 bis 1944?

Für Deutschland ja. Für Russland wissen wir nur punktuell, welche Taten wo, wann, von wem begangen wurden.

Gibt es noch mehr weiße Flecken?

Das Verhalten der Juden ist weitgehend unbekannt. Es gibt dazu wenig Quellen, weil der Judenmord in der UdSSR nach 1945 weitgehend tabuisiert wurde. Es gab keine systematischen Befragungen von Überlebenden. Wir wissen auch wenig über die Kollaboration der Einheimischen mit den Nazis oder wie sich die ukrainischen, russischen oder weißrussischen Nachbarn der Juden verhalten haben; wie die orthodoxe Kirche, die ja kulturelle Leitinstanz war, reagiert hat. Seit Herbst 1941 waren immer einheimische Hilfskräfte an den Morden beteiligt, auf dem Gebiet der Sowjetunion insgesamt mehr Einheimische als Deutsche. In einer typischen ukrainischen Kleinstadt gab es ein drei, vier deutsche Polizisten und 50 ukrainische Hilfspolizisten. Wenn dort eine Einsatzgruppe anrückte, räumten auch ukrainische Polizisten das Ghetto, sperrten die Erschießungsstätte ab, schossen manchmal auch selbst.

Gewinnt man nach der Lektüre der 331 Quellen des Bandes 7 ein umfassendes Bild?

Wir haben versucht alle Perspektiven zu berücksichtigen, von der deutschen Staatsführung bis zum jüdischen Gefangenen, von jenen, die vor ihrer Ermordung Tagebuch schrieben, bis zur Reaktion der internationalen Öffentlichkeit. Mehrere tausend Massenerschießungen in den besetzten sowjetischen Gebieten können in einem Band nicht aufgenommen werden. Band 7 ist ein Mosaik von exemplarischen Dokumenten.

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6 Kommentare

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  • DS
    Der Sizilianer

    Ein erheblicher Teil der Bevölkerung hat zudem von der versuchten Totalvernichtung der Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma sowie anderer NS-Opfergruppen materiell profitiert.

     

    Die Häuser, Wohnungen, Geschäfte beispielsweise, in denen Jüdinnen und Juden gewohnt haben und die sich ursprünglich in ihrem Besitz befanden, sind ja nicht leerstehend bzw. besitzlos geblieben. Ganz zu Schweigen von den ganzen Einrichtungsgegenständen ...

     

    Die gesamte Bevölkerung der TäterInnenschaft zu bezichtigen ist sicherlich Unsinn. Aber genauso ist es denke ich Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung von den millionenfachen Massenmorden im NS-Staat profitiert hat - und auch deswegen bereit gewesen sein dürfte, nicht so genau nachzufragen, wo eigentlich die jüdische Familie aus der Nachbarschaft oder die jüdische Arbeitskollegin abgeblieben waren - und wann die wohl wiederkommen und was dann aus der Wohnung und dem Meissner Porzellanservice wird, das man doch sooooo unglaublich günstig erstanden hat ...

     

    ... und heute bereichert "das gute Familienservice von Großmutter" noch so manche harmonische, deutsche Sonntagskaffeetafel ...

  • TS
    Thomas Sch.

    Lieber Bumbumbaader (der wären Sie wohl gerne gewesen),

    mit den Geschichtsbüchern sind wir uns also schon mal einig. Soweit so gut. Dann haben Sie ja wohl auch verstanden, daß man vom „Deutschen Reich“ nur dann spricht, wenn ein Kaiser über „alle deutschen Völker und Stämmer herrscht“. Das ist beim ersten DR in der Zeit bis 1806 und beim zweiten DR ab 1871 der Fall. Und das Adolf Nazi ja wohl nie Kaiser war, ist die Bezeichnung „drittes Reich“ schon mal ganz verkehrt, hat sich sprachlich aber eingebürgert. Soweit erstmal zu Ihrer Aufklärung. Zweitens: Mit keiner Silbe sind Sie darauf eingegangen, wie Kinder sich daran mutschuldigmachen sollen, zufällig in die Nazizeit hineingeboren worden zu sein. Kein einziges Wort dazu von Ihnen ! Fällt Ihnen nichts ein auf die Frage, woran sich ein 12-jähriger schuldigmachen sollte ? Macht sich Ihrer Meinung nach ein 17-jähriger in der Nazizeit der Unterlassung schuldig, weil er kein Attentat durchgeführt hat oder keine Widerstandsgruppe gegründet hat ? Na los, Sie Oberschlauer. Wie macht sich ein Kind schuldig ? Antworten Sie. Gegenfrage: Ein Kind, das heute in Nordkorea geboren wird; ist das mitschuldig an den Lagern, der Dikatur oder Kim-Il Sung dort ? Los, Sie Bumbumblöder, antworten Sie mal.

  • B
    bumbumbaader

    "Schlagen Sie mal bitte ein Geschichtsbuch und schauen nach: Deutschland existiert seit ca. tausend Jahren und wenn Sie die Germanen dazurechnen wollen, kommt nochmal ein Tausender obendrauf. "

     

    hahahahaha ich empfehle ihnen ein geschichtsbuch oder mal bei wikipedia (is einfacher ;) und nach "deutsches reich" gucken.

    zum thema "verantwortung meiner eltern" empfehle ich goldhagen, meinetwegen auch die gesamte goldhagen-diskussion, aber vermutlich sind sie ja eh der meineung, dass die deutschen nix gemacht und hitlers erstes opfer waren, mit verbalen argumenten is da eh nicht viel zu machen

  • TS
    Thomas Sch.

    Lieber Antifa,

    soso, die ganze Bevölkerung war also Täter. Zu Hitlers Machtergreifung waren meine Eltern fünf Jahre alt. Täter ? Zu Kriegsbeginn waren meine Eltern 12 Jahre alt. Täter? Zu Kriegsende waren meine Eltern 17 Jahre alt. Täter ? Wenn meine Eltern mitschuldsein sein sollten, wie sollte das denn funkionieren ? Oder erwarten Sie von 12-jährigen die Gründung einer Widerstandsgruppe ? Erwarten Sie von 17-jährigen einen Anschlag ? Sagen Sie mal, wie sind Sie denn verdrahtet ? Wenn meine Eltern als Kinder sich mitschuldiggemacht haben sollten, dann sind Sie genausogut mitschuldig am Völkermord in Kambodscha, dem Einmarsch der USA im Irak oder meinetwegen am Hin- und Herbomben zwischen Israel und den Palästinensern. Na, was sagen Sie dazu. Nach Ihrer verqueren Logik müßten Sie sich jetzt ja wohl daran auch als mitschuldig erkennen, Oder ? Was sind Sie bloß für ein Dummkopf.(Sorry, TAZ, aber das ist hier ja wohl eindeutig.) Zweitens: Wieso nie wieder Deutschland ? Wenn Sie jetzt gesagt hätten: Nie wieder Nazis oder nie wieder drittes Reich, da hätte ich Ihnen ja auch noch zugestimmt, aber: Nie wieder Deutschland ? Schlagen Sie mal bitte ein Geschichtsbuch und schauen nach: Deutschland existiert seit ca. tausend Jahren und wenn Sie die Germanen dazurechnen wollen, kommt nochmal ein Tausender obendrauf. All das ist auch Deutschland. Wieso soll denn die Zeit, die vor einem Verbrechen stattgefunden hat, mitursächlich sein ? Völlig verquere Denke. Das würde bedeuten, daß alle Handlungen meines Lebens irgendwie auf einen Rechtsverstoß hin zu beurteilen wären. Das ist doch erkennbar Quatsch. Irgenwie sollten Sie mal Ihre Begrifflichkeit überprüfen. Also wenn Sie typisch sein sollten für einen Antifanten kann man jedenfalls mit Bestimmtheit sagen: Armes Deutschland.

  • A
    Antifa

    Nicht nur 200000 Täter. Die gesamte deutsche Bevölkerung war Täter. Deshalb: Nie wieder Deutschland!

  • TS
    Thomas Sch.

    Warum Leute mitmachen ? Einige Wenige sind kranke Psychopathen. Das sind die, die in jeder Gesellschaft bei denen sind, wo gefoltert und gequält wird. Schlimme Verbrecher. Dann gibt es überall Karrieristen, die wissen, was passiert, aber wegschauen, um ihr Fortkommen nicht zu gefährden. Diese sind mal mehr oder mal weniger schuldig, je nachdem wieweit sie verstrickt sind oder sich sogar selber die Finger schmutziggemacht haben. Da muß man ganz genau hinschauen. Die große Masse der Bevölkerung jedoch ist so, wie sie immer war, wie sie zur Zeit überall ist und vermutlich auch immer sein wird: Uninteressiert und gleichgültig. Als Antwort auf meine Frage, warum denn damals "bei Euch" niemand "was dagegen unternommen" habe, habe ich zu hören bekommen, was ich schon ahnte: "Willst du nicht mein Freund mir sein, so schlag´ich dir die Fresse ein." Das dürfte für alle unfreien Gesellschaften dieser Welt und in allen Zeiten Geltung haben.