die wahrheit: Der politische Kommentar
Gemächlicher bis verschnarchter Einstieg, ohne irgendwem auf die Füße zu treten. Scheinbar ziellos und heiter, aber schon mit erkennbarem Bezug ...
... zur Lebenswirklichkeit des Lesers. Der muss abgeholt werden, wo er gerade steht, und seis unter der Dusche. Soll innehalten und denken: "Sieh an, das dachte ich mir auch, mal sehen, wies weitergeht im Text." Weiter im Text.
Paukenschlagartige Vorstellung des eigentlichen Themas: Gigagroßes Megaproblem! Wäre kleiner, hätte man mal früher auf den Kolumnisten gehört. Neulich, tja-ha, da gab es noch prinzipielle Hoffnung und silbergestreifte Horizonte. Aber jetzt? Jetzt aber greift mit ihren tentakeligen Armen die Ernüchterung um sich. Dunkle Wolken. Was tun? Vorstellung des Fingers. Wedeln mit dem Finger. Legen des Fingers in die gesamtgesellschaftliche Wunde.
Zeit für Zahlen. Zum Aufwärmen vorweg ein paar Wortspiele mit "Zahlmeister", "Zahltag" und "Zahlen, bitte!". Dann erst den Blick des arglos schmunzelnden Lesers freigeben auf ein festungsähnliches Zahlenwerk mit turmhohen Schloten, aus denen die grauen Nullen nur so hervorqualmen.
Einschüchternd viele Zahlen. Wahnsinnig komplizierte Zahlen. Ins Astronomische ausufernde Zahlen. Protzige Prozente, aber auch ein paar winzige Prozentpünktchen. Ziel der Zahlen ist die Erweckung des Eindrucks, dass der Kolumnist bis weit über beide Ohren "drin ist" im Thema, ja dass ihn mit der Welt jenseits der Zahlen nur mehr ein Schnorchel verbindet.
Nun sollte der Kolumnist seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund ausmalen, in möglichst schillernden Farben. Finger wieder aus der Wunde nehmen, abtupfen und damit das Buch der Geschichte durchblättern. Denn das besagte Problem ist nicht nur groß. Es ist auch alt. Schon in den Upanishaden wird es angedeutet.
Homer, wir alle erinnern uns, hat ein paar Verse darüber verfasst ("Eos im Safranmantel stieg aus Okeanos Gewoge empor, um den Unsterblichen gleichwie den Sterblichen das Licht zu bringen, allerdings gab es da ein Problem …"). Rom ging daran zugrunde, Byzanz bekam es gerade noch in den Griff. Der Dreißigjährige Krieg hätte ohne dieses Problem nur 30 Minuten gedauert, der Zweite Weltkrieg gar nicht erst stattgefunden. So groß ist es. Und so alt.
Hier böte sich ein kleiner, aber schmerzhafter Seitenhieb auf andere politische Kolumnisten an, die das Problem für eher mittelgroß und relativ jung halten, diese Trottel. Bereitstellung des Besens. Knüpfen des Teppichs. Kehren aller Gegenargumente unter den Teppich. Jetzt erst ist der Leser reif für das finale Fegefeuer wohlfeiler Forderungsfloskeln.
Niemand sollte irgendwem aufs Maul schauen. Der Betrieb von Augenwischerei muss mit sofortiger Wirkung eingestellt werden. Desgleichen das Streuen von Sand, in den unsere Köpfe zu stecken wir schlecht beraten wären, in Augen, die ihrerseits wiederum nicht verschlossen werden dürfen vor der Macht des Faktischen. Und Hausaufgaben müssen gemacht werden, immer wieder Hausaufgaben.
Ob damit das Scheißproblem aus der Welt geschafft werden kann? Bleibt abzuwarten.
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