Debakel: Ein Tag für Sündenböcke
Der Hamburger SV bekommt vom Tabellennachbarn VfB Stuttgart beim 0:4 die Grenzen aufgezeigt. Bei Guerreros brutalen Frustfoul war das Spiel schon längst verloren.
HAMBURG taz | Heiko Westermann steht dort, wo die Fernsehkameras stehen. Er hat ein TV-Interview hinter sich. Gleich kommt das nächste. Er reibt sich übers Gesicht, so wie morgens im Badezimmer. Nur das Wasser fehlt. Er reibt sich die Stirn. Nochmal das Gesicht. Was immer da ist, es geht nicht weg. Er wacht nicht auf, das ist auch nicht sein Badezimmer, ist kein schlechter Traum.
Westermann, Kapitän des Hamburger SV, muss Interviews geben, gerade nach einer 0:4-Pleite gegen den VfB Stuttgart. Er weiß, dass er auch bei den Interviews nur verlieren kann. Ein paar von denen, die sich im Spiel versteckt haben, verstecken sich auch jetzt. Ein paar, die sich im Spiel versteckt haben, quatschen jetzt schlau mit den Fernseh-Leuten, wie Marcell Jansen. Westermann hat sich nicht versteckt. Und er hat hinterher auch keine klugen Sprüche parat. „Das haben wir in der Form noch nicht gehabt: Wir sind ohne Willen, ohne Leidenschaft, das Spiel gewinnen zu wollen, in die Partie gegangen“, sagt er. „Das Wetter ist geil, die Zuschauer sind da, und dann liefern wir so eine Leistung ab. Unglaublich. Ich kann es nicht erklären.“
K.O. durch zwei Elfmeter
Westermann schimpft nicht auf den Schiedsrichter, der zwei Elfmeter gegen den HSV gibt. Den ersten, in der 31. Minute, als Slobodan Rajković mit der Schulter Shinji Okazaki rempelt, kann man geben. VfB-Mittelfeldspieler Zdravko Kuzmanović verwandelt zum 0:2. Den zweiten Elfer kann Schiedsrichter Peter Sippel nicht geben. Rajković soll Martin Harnik gefoult haben. Wieder trifft Kuzmanović (47.). „Du kommst aus der Kabine, willst noch was machen, und kriegst so einen Elfer“, sagt HSV-Trainer Thorsten Fink, und pfeift sich sofort zurück: „Wir reden nicht über den Schiedsrichter.“
Dieser für die HSV-Fans miese Nachmittag beginnt damit, dass sich Dennis Aogo beim Warmmachen verletzt. Für ihn spielt Marcell Jansen, linker Außenverteidiger, Ivo Iličević spielt im linken Mittelfeld, beide bleiben diskret, Jacopo Sala spielt rechtes Mittelfeld, Paolo Guerrero Stürmer, hinter ihm Mladen Petrić. Petrić ist vielleicht der diskreteste von allen. Er spielt wie ein Ehemann, der, die Schuhe in der Hand, mit schlechtem Gewissen vorsichtig durch die Wohnung schleicht.
Das Spiel des HSV lebt von den Vorstößen der Außenverteidiger. Ohne Aogo ist das schwer, und wenn der Gegner früh angreift und die Außenverteidiger beschäftigt, geht nach vorne nichts. So ist es gegen den VfB. Eine Kombination über Tamás Hajnal vollendet Vedad Ibišević zum 0:1 (23.). Das vierte Tor beginnt mit einem Fehler von Tolgay Arslan, Harnik macht sein 14. Saisontor. „Ich weiß gar nicht, wie viele Fehler wir vor dem 0:4 machen“, sagt Westermann.
Tritt mit 30 Metern Anlauf
Eines der Probleme dieser Mannschaft wird in der 53. Minute deutlich. Paolo Guerrero, der seine beste HSV-Saison spielt, läuft hinter VfB-Torwart Sven Ulreich her, der den Ball tief in der Hälfte des VfB abschirmt, damit er ins Aus geht. Guerrero hätte vor ein paar Minuten gerne einen Elfer gehabt, denn er war im VfB-Strafraum von Gotoku Sakai gestoßen worden. In Sippels Pfeife waren an diesem Tag nur Elfer für den VfB. Guerrero stampft mit dem Fuß auf, brüllt, tobt, und es ist klar: Vulkan brodelt.
Nun läuft Guerrero hinter Ulreich her. Kurz nachdem Guerrero ausholt, liegt Ulreich und damit Unheil in der Luft. Guerrero hat Ulreich nach dreißig Metern Anlauf in die linke Wade getreten. „Ich bin froh, dass Ulle gesund ist“, sagt VfB-Trainer Bruno Labbadia. Da können auch Knochen brechen.
Rote Karte für Guerrero, seine erste. Trotzdem droht eine lange Sperre, und „wir werden auch intern was machen“, kündigt Fink an. Der HSV verliert seinen mit Abstand besten Offensivspieler.
Guerreros Tritt hat mit seiner Mannschaft zu tun, in der sich zu viele ergeben, wenn es nicht läuft. Guerrero kämpft. Ein paar beim HSV haben nicht die Mittel, sich zu wehren, ein paar die falschen. Guerrero und Rajković geben gute Sündenböcke ab. Wer welche sucht, schaut nicht auf die eigenen Fehler – und macht damit den nächsten.
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