Persönliche Texte im Netz: Wirklichkeit, verpixelt
Papier ist nicht haltbar, Texte im Netz dagegen bleiben ewig: Über die weiche journalistische Form in Zeiten des Internets – ohne den digitalen Radiergummi.
In „Stadt der Engel“ schrieb die jüngst verstorbene Christa Wolf, wie rätselhaft das doch ist: Die Menschen vergessen die simpelsten Fakten immer wieder – „schlichte Einsichten aufzubewahren“, dafür scheint das Gehirn nicht gemacht.
Geschichten dagegen graben sich ein, werden immer, immer wieder abgerufen, „aufgehoben im Strom des Erzählens durch die Jahrhunderte“. Der junge Werther, so Wolfs Beispiel, muss sich wieder und wieder die Kugel in den Kopf schießen. Goethe selbst könnte ihn nicht mehr daran hindern.
Nun sind Journalisten nur im Ausnahmefall Goethes. Doch verstehen sie sofort, welche Weisheit über die Presse im Internet-Zeitalter hier enthalten ist: Dürre Fakten sterben früh, schmackige Geschichten nie. Denn die journalistische Existenz im Netz, „Google“-konstruiert, sie verweist nie auf den mühsam recherchierten Bericht etwa über die Krankenkassenbeiträge oder den Länderfinanzausgleich, der ist meist binnen Stunden im digitalen Nirvana veschwindet. Ewig präsent bleiben dagegen Kolumnen über Milchzähne, Männer und Menstruationsbeschwerden.
Kurz: über alles, was dem Autor oder der Autorin sehr bald auch peinlich sein kann. Wie so viele naheliegende, technisch aber schwer realisierbare Ideen wurde zuletzt auch die Forderung nach einem „digitalen Radiergummi“ verworfen, nach einem Recht von Privatpersonen, ihre Daten aus dem Netz zu löschen. Keine Chance für Teenager, die auf Jobsuche ihre alkoholsatten Partyfotos wieder unzugänglich machen wollen.
Gar nicht so weit entfernt von diesem Teenager aber ist auch der Journalist, dem auffällt, dass sein Text nicht für die Ewigkeit gedacht war, sondern eigentlich bloß für den nächsten Tag. Denn es ist ein Unterschied, ob die Glosse über den Liebeskummer des Mitbewohners bloß ein paar Wochen noch in der WG eine gewisse Rolle spielt – oder ob sie die Redakteurin noch einholt, wenn sie längst zum Beispiel Rundfunk-Intendantin werden will.
Wie ein billiger Sexstreifen
War das Stück nicht wirklich brillant, bekommt es dann die Rolle jenes billigen kleinen Pornos, den die heute hochseriöse Schauspielerin einmal gedreht hat, als sie jung war und das Geld brauchte.
„Natürlich“, sagt auch die taz-Kollegin, die für ihre Liebe sowohl zu harten Fakten wie auch zur weichen journalistischen Form bekannt ist – „natürlich passe ich jetzt stärker auf, dass ich alle Bezüge hinreichend verschleiere“. Für eine Kolumne bedeutet das, dass das handelnde Personal nur sehr entfernt noch mit dem sozialen Umfeld der Autorin zu tun hat.
Es mag nun die Leser nicht weiter stören, wenn aus der Darstellung eines beispielhaften WG-Lebens die Darstellung eines komplett frei erfundenen WG-Lebens wird. Oder merken sie es doch, weil die Qualität von Kolumnen eben davon abhängt, dass gelebtes Leben darin vorkommt? Vielleicht aber sind leichte Texte von Leuten, die nicht den Rest ihres Lebens damit identifiziert werden wollen, auch verzichtbar.
Wie verzichtbar aber sind journalistische Formen, in denen Schicksale anderer Menschen dazu dienen, von wichtigen politischen und gesellschaftlichen Konflikten zu berichten – die Reportage oder das „Feature“ also?
Es ist seit je sehr aufwendig, Menschen zu finden, die freiwillig als „Beispiel“ für einen Bericht herhalten, am liebsten mit Name, und sei er abgekürzt, und Foto. Die Hartz-IV-Familie, der Prostata-Patient – sie sind dem Mediennutzer allgegenwärtig, es scheint in Zeitungen und Magazinen keinen Mangel an unverpixelten Gesichtern und nachprüfbaren Schicksalen zu geben. Und doch musste jedes Mal genug Vertrauen aufgebaut werden, dass sich Menschen, die vielleicht Opfer oder Täter wurden, die vielleicht schwach waren oder dumm, der Öffentlichkeit aussetzen.
Medienfutter
Viele Reporterinnen und Reporter aber haben es schon längst gemerkt: Solche Beispielsmenschen haben bereits erkannt, dass ihre Geschichten nicht mehr bloß einen Tag in der Zeitung stehen sollen, um dann zu staubigem Archivmaterial zu werden. Im Internet könnte ihre eigene Story sie jahrelang verfolgen – zugänglich für jeden, der gerade den Namen bei Google eintippt. Selbstverständlich wirkt sich das auf die Bereitschaft aus, als Medienfutter herzuhalten. Einige Menschen werden sich selbst umso lieber vermarkten – die Mehrheit der anderen sich ganz zurückziehen.
Und selbstverständlich wird sich das auf die Berichterstattung auswirken. Wenn das plausible, vielleicht bewegende Einzelschicksal aus der politischen Berichterstattung herausgekoppelt wird, verhärtet das die Wahrnehmung – menschlich wie journalistisch –, und vielleicht verfälscht es sie auch. Wenn das im Einzelfall immer so ambivalente, die Fantasie entzündende Beispiel fehlt, wird die Berichterstattung für Leser und Nutzer abstrakt: voller widerstreitender Interessen, aber längst nicht mehr für jeden zugänglich.
Übrig bleiben dann die Fakten. Die aber werden, Christa Wolf hat es beschrieben, schnell vergessen. Obwohl man sie bräuchte.
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