Leben in der Patchworkfamilie: Mamawochen, Papawochen
Wenn die Liebe verschwindet, die Kinder aber noch da sind, brauchen Eltern Organisationstalent, Kreativität und Ressourcen. Den Engels gelang das Kunststück.
Das Mädchen, hochgewachsen, hockt auf einer Gartenbank und drückt auf einem lila iPod herum. Antonia hat keinen Blick für das Kornfeld in der Abendsonne nebenan. Ist ihr egal. Kennt sie schon. Sie hat Kummer, wischt sich jetzt aber die Träne aus dem Auge, zieht die Musikstöpsel aus den Ohren. Das Gespräch mit ihrer Mutter über den Friseurbesuch vor dem Urlaub richtet die 14-Jährige sichtlich auf.
Ihre Mutter, Dorothea, erwähnt später, dass ihr ältestes Kind eben manchmal traurig ist, einfach so. Die Trennung der Eltern habe Antonia am stärksten mitgenommen, stärker jedenfalls als die beiden Jüngeren. Antonia war acht, Justus fünf, Charlotte zwei, als Dorothea den Vater der Kinder, Christian, verließ. Ein anderer Mann war in ihr Leben getreten: Michael. Kurz nach Dorotheas und Michaels Hochzeit wurde Titus geboren.
Die Organisationsform, die seither das Leben von drei Erwachsenen und vier Kindern prägt, heißt Wechselmodell. „Wir haben das selbst so benannt“, sagt Dorothea. Wechseln heißt, dass die Kinder freitags alle Sachen packen, die sie für eine Woche brauchen – inklusive Atlas, Turnbeutel, Busfahrkarte. Die Kinder haben je ein komplettes Set an Kleidung beim Vater wie bei der Mutter.
Nur Jacken und Schuhe werden mitgenommen – sie doppelt bereitzuhalten, wäre zu teuer. Und dann wird gewechselt: Von Dorotheas und Michaels Haushalt in Borchen zwölf Kilometer weiter zu Christians Haushalt nahe dem Zentrum Paderborns. Und am Freitag darauf geht es wieder zurück. Mamawoche, Papawoche, abwechselnd.
■ Der Alltag von Eltern und Kindern in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert, wie der „Familienreport 2010“ des Bundesfamilienministeriums zeigt. Der Bericht zeichnet die Entwicklung der unterschiedlichen Lebensformen zwischen 1998 und 2008 nach.
■ 1998 lebten 9,4 Millionen Eltern mit Kindern unter 18 Jahren in unterschiedlichsten Lebensgemeinschaften – 2008 waren es nur noch rund 8,4 Millionen.
■ Verheiratete Elternfamilien mit Kind gab es 1998 noch 7,5 Millionen, zehn Jahre später waren es nur 6,1 Millionen.
■ Im selben Zeitraum stieg die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften von 500.000 auf 694.000.
■ Um 300.000 stieg die Zahl der Alleinerziehenden an: von 1,3 Millionen auf 1,6 Millionen.
Quellen: Mikrozensus 1998 und 2008
Plötzlich ist das Haus still
Wenn die größeren Kinder bei Christian sind, bleibt Titus, der Kleine, natürlich bei Dorothea und Michael. „Der langweilt sich erst einmal fürchterlich, wenn die großen Geschwister weg sind“, erzählt Dorothea. Plötzlich sei das Haus so still.
Das Wechselmodell wurde bei der Trennungskinderberatung entwickelt. Für die Feiertage, Urlaubszeiten und andere Ausnahmen wurde eine umfangreiche Excel-Tabelle angelegt. Sie hat auf Dorotheas wie auf Christians Festplatte einen Sonderplatz.
„Eines war uns klar, als wir uns trennten“, sagt Dorothea. „Wir wollten auf keinen Fall den ’Klassiker‘, also dass Christian die Kinder jedes zweite Wochenende hat, wie so viele Scheidungsväter.“ Schließlich hatten beide die Kinder von Anfang an zu ziemlich gleichen Teilen betreut: „Das sollte so weitergehen.“
Dadurch erübrigte sich auch ein Unterhaltsprozess, der Geld, Nerven und weiteres Vertrauen zerstört hätte. Ohne Toleranz geht freilich auch in so einem Fall nichts: Sämtliche Eltern sind sich halbwegs einig, dass es nicht lohnt, über Biolebensmittel gegen Discounterware zu streiten, über Schul- gegen Alternativmedizin und auch nicht darüber, welchen Sonnenschutzfaktor es im Urlaub braucht.
„Recht auf Glücklichsein“
Wann und wieso trennen sich zwei Menschen, die zusammen drei Kinder haben? Schnell, sehr schnell sagt Dorothea: „Ich habe auch ein Recht auf Glücklichsein.“ Christian und Dorothea kannten sich aus der Schulklasse. Eigentlich war eine Schwangerschaft nicht geplant, aber Dorothea war 24 Jahre alt und schwer verliebt.
„Nach meinem ersten Juraexamen mit eigener Wohnung, Job und eigenem Auto dachte ich: Was kostet die Welt? Alles war so frisch, alles konnte losgehen“, erzählt sie. Nach den Geburten von Antonia, Justus und Charlotte war sie stets wenige Wochen später wieder am Arbeitsplatz.
Beide Großmütter sprangen oft und wohl auch gern ein, um die Kinderbetreuung zu übernehmen. Drei kleine Kinder, ein Haus wurde gebaut, die Jobs anspruchsvoll – „ich bin ein Projektemensch“, sagt Dorothea. Christian übernahm seinen Teil in einer vollständig gleichberechtigten Beziehung – die Hälfte. Und doch. Es bröckelten Liebe und Respekt.
Als die Unternehmensjuristin Dorothea zu Vertragsverhandlungen nach New York flog und dort nächtelang mit dem Softwarespezialisten Michael über Vertragsdetails brütete, war ihr Herz verloren. Michael, Micha sollte es sein, nur er. Nicht nervös war er, die Kinder zu treffen, sagt Michael, „eher neugierig“.
Glutrotes Brautkleid
Charlotte sei noch zu klein gewesen, Justus ohnehin von der „Wo ist mein Playmobil?“-entspannten Sorte. „Aber Antonia, wie reagiert Antonia? Das war die Frage.“ Ergebnis: „Sie war sehr rational und ist es geblieben“, berichtet er. Es ging dann alles wieder sehr schnell. Am Tag der Hochzeit war Dorothea schon hochschwanger mit Titus, sie trug ein glutrotes Brautkleid.
„Mit meinen drei neuen kleinen Mitbewohnern, das war hardcore“, erzählt Michael. Umstandslos durfte er, der seine Freizeit bislang vornehmlich mit Freunden in Kneipen verbracht hatte, neue Talente an sich entdecken: „Charlotte kam direkt an und krähte: ’Windeln!‘ Da gab es kein Entrinnen.“
Entrinnen nicht – aber Ressourcen. Drei überdurchschnittliche Einkommen dreier überdurchschnittlich qualifizierter Topangestellter können Dorothea, Michael und Christian aufweisen. Michael scheint von Geldsorgen wenig geplagt, sagt aber offen: „Natürlich ginge das alles nicht, wenn Dorothea Kassiererin wäre und ich Automechaniker.“
Genauso wichtig wie das Geld: Arbeitszeiten. Dorothea, Michael und Christian sind ihren Arbeitgebern so lieb und teuer, dass die ihnen halbwegs flexible Präsenzzeiten am Arbeitsplatz gewähren. Dorothea kann Home Office machen, wenn ein Kind krank ist. „Sie sind alle Gott sei Dank so selten, fast nie krank“, vergisst sie nicht hinzuzufügen.
„Omas in Reichweite“
Alle Kinder waren mit spätestens einem Jahr in der Kita, doch mit deren Öffnungszeit ist der Betreuungsbedarf berufstätiger Eltern nur selten gedeckt. Christians Mutter nimmt sogar alle drei Großen auf einmal, verfrachtet sie auch zum Schwimmen. „Es ist so angenehm, die Omas in Reichweite zu haben“, sagt Dorothea.
Ein Mädchen, großgewachsen, erscheint mit Farbspritzern in Haar und Gesicht im Garten. Antonia dekoriert schon wieder ihr Zimmer um, aber nun ist die Farbe alle. „Micha, ich brauche Zinkgelb“, sagt sie. Es ist Samstag, in Paderborn haben die Läden am Wochenende nicht ewig auf.
Michael ist vor wenigen Stunden erst eingeflogen. Er war, wie so häufig, geschäftlich in den USA und in Kanada und blinzelt mit den Augen. Aber wo Zinkgelb her muss, muss Zinkgelb her. „Komm Herzchen, wir fahren. Welcher Baumarkt soll’s denn sein?“ Sage keiner, die Dinge ließen sich nicht organisieren. Nur müde, müde darf man dabei nicht sein.
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