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Die WahrheitDie Stiche des Metzgers

Die Wahrheit-Woche der Narben: Das Risiko und der Tag der Befreiung.

Immer dieselbe Frage: „Haben Sie mal Fußball gespielt?“ Fragt jeder Arzt, der zufällig meine Narbe sieht. „Ja, aber die Narbe ist nicht vom Fußballspielen“, antworte ich routiniert. „Sieht aus wie eine Meniskusoperation“, meint der Weißkittel und schüttelt dann den Kopf, „aber das kann ja gar nicht, die Stiche kann kein Arzt gemacht haben.“ – „Doch, doch, das war ein Arzt!“, erkläre ich dann, obwohl Arzt tatsächlich etwas zu hoch gegriffen ist. Denn das war Dr. Maibock. Er hat meine wunderbare Narbe am rechten Knie hingeklöppelt, an der man noch heute, mehr als vierzig Jahre später, exakt jeden Stich sehen kann, zehn an der Zahl. Wie mit der Stopfnadel gebohrt.

Kürzlich habe ich ein Jubiläum gefeiert: 30 Jahre „Tag der Befreiung“. Seit dem 3. Juni 1982 bin ich offiziell in Berlin gemeldet und seither befreit von Familie, Provinz und Bundeswehr. Während seinerzeit vor meinem Elternhaus die Feldjäger patrouillierten und mich abfangen wollten, tauchte ich tief in den Westberliner Underground ab. Wir hatten ja damals alles – vor allem Zeit, um nächtelang sinnlos herumzuhocken. Am liebsten an heute mit der Patina der Legende belegten Plätzen.

Ich raune nur: „Risikooooooo“! In der Schöneberger Yorckstraße. Mit allen Nebenwirkungen und Neubauten. Hinter der Theke stand Blixa Bargeld. Davor Nick Cave, Gudrun Gut, Wim Wenders. Im Hinterzimmer die Badewanne voller zersplitterter grüner Bierflaschen. Und drei Häuser weiter wischte sich der dicke Pommesschmied Jens in der „Futterkrippe“ nach jeder Bestellung die fettigen Finger am vormals weißen Kittel ab. Das volle Programm. So war das im Kalten Krieg von Westberlin – oft besungen von den Helden des Alltags und ihrer Monarchie.

Genau zu jener Zeit, in der ich höchstens alle drei Monate mal eine Telefonzelle betrat, um nach Westdeutschland kundzutun, dass ich noch lebte – „nein, das Studium geht erst im Herbst los, bis dahin ist noch lang hin, und jetzt fällt auch gleich das Geld durch, tschüss schon mal …“ –, genau zu der Zeit erreichte mich um zehn Ecken herum die Nachricht, dass mich ein „Klassenkamerad“ treffen wollte. Bereits beim Wort „Klassenkamerad“ überkam mich ein leichter Würgereflex. Schule und Ähnliches hatte ich zum Glück hinter mir gelassen.

Als ich aber hörte, wen es nach mir verlangte, entschloss sich mein Magen zur sofortigen Entleerung: Martin Maibock. Das uncoolste Wesen westlich von Santa Fe, wie meine Lieblingswesternserie im Fernsehen hieß. Aber Martin Maibock war kein Cowboy. Auch kein Indianer. Er war grunzkatholisch, in der Jungen Union und wurde von uns punkgestählten Wavern nur „Fartin’ Martin“ genannt. Der verpupte Martin.

Er war der Sohn des Dorfarztes Dr. Maibock und studierte nun in Berlin – selbstverständlich Jura. Viele Jahre später würde ich ihm wiederbegegnen, als er einen Saal betrat und ins Rund hineinschrie: „Hier kommt der beste Anwalt der Welt.“ Offenbar war er, wie kolportiert wurde, sehr, sehr einsam in der großen Stadt, aber das war er auch schon in der kleinen Stadt gewesen. Und nun suchte er mich. Vielleicht wäre genau das ja ganz lustig, dachte ich in meinem dauerbenebelten Kopf und ließ ihm eine Mitteilung zukommen. Er, Maibock, solle ins Risiko kommen, wo ich jede Nacht verkehrte, wie ich dem Boten zu verstehen gab.

Jahrelang hörte ich nichts mehr von Martin Maibock, bis eines Tages ein gemeinsamer Bekannter auftauchte. Er berichtete, dass Maibock zu Westberliner Zeiten dauernd nach mir gesucht habe. Wochenlang sei er Abend für Abend in ein Lokal namens Das Klo gegangen. Mich habe er jedoch dort nie angetroffen.

Dunkel konnte ich mich an ein gleichnamiges Lokal nahe dem Charlottenburger Ku’damm erinnern, das ich jedoch nie betreten hatte. Am Eingang musste man einen Groschen einwerfen, um überhaupt in die üble Touristenkaschemme hineinzugelangen. Einmal war man an der „Erlebniskneipe“, wie es in der Eigenwerbung hieß, vorbeigeschwankt und hatte sich bei dem Gedanken geekelt, den ganzen Abend auf Toilettenschüsseln zu sitzen und schlechte Berliner Biere zu trinken. „Engelhardt macht Stengel hart.“ Und das sollte lustig sein? Schüttel!

Die Vorstellung, dass der fehlgeleitete Maibock wochenlang auf Klobrillen thronte und vergebens auf mich wartete, gefiel mir sehr, auch wenn ich nicht wusste, ob der Bote sich einen Spaß erlaubt hatte und ihn absichtlich ins Klo geschickt hatte. Es war wohl eher ausgleichende Gerechtigkeit. Der Weltgeist hatte sich für mich gerächt. Dafür, dass sein Vater, Dr. Maibock, meine ewige Narbe produziert hatte.

Mit sieben oder acht war ich vom Fahrrad gefallen und mit dem Knie an der grobkörnigen Bürgersteigkante entlanggeschrammt. Aus der klaffenden Fleischwunde spritzte das Blut hervor, so dass ich aufs Rad gehievt und zu Dr. Maibock geschoben wurde. Der alte Maibock hatte auf dem zweiten Bildungsweg über die katholische Kirche das Abitur nachgemacht und Medizin studiert. Zuvor war er Metzger gewesen. Und so sieht meine Narbe auch heute noch aus.

Meiner persönlichen Legende nach wurden die zehn Stiche selbstredend ohne Betäubung genäht. Mit einer Nadel, die sooo, sooooo groß war. Zum Beweis lass ich gern die Hosen herunter.

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