Die Wahrheit: NOCH 80 WUNDERBARE JAHRE
Seit ich beschlossen habe, 123 und damit die älteste Frau der Welt zu werden, ist mein Leben radikal tiefenentspannter.
S eit ich beschlossen habe, 123 und damit die älteste Frau der Welt zu werden, ist mein Leben radikal tiefenentspannter. Wenn man weiß, dass man noch 80 Jahre hat, um alles zu regeln, verlieren auch unüberwindbar scheinende Aufgaben ihren Schrecken. Und es werden wunderbare Jahre, vor allem die finalen 20 zwischen 2072 und 2092, wenn ich als eine der letzten Zeitzeuginnen aus dem 20. Jahrhundert Weltruhm erlange: Das Format „Ol’ Jennis Memories“ wird sich überall etabliert haben, auch mein Blog „Projekt123.com“ läuft wie geschnitten Brot, und was auch immer statt Fernsehen die Menschen unterhält, ich werde ständiger Gast dort sein und aus der wahnsinnigen Zeit berichten, als es im Sommer noch heiß war, Frauen noch Kinder einfach so auf die Welt drückten und die Menschen noch über relativ große, körperferne Telefone kommunizierten.
Ich werde ab ungefähr 2032 bunte Turbane, weite Sarongs und dicken Schmuck tragen, ab circa 2082 werde ich jedoch aufhören müssen zu rauchen, weil ich damit rechne, zu erblinden – auch die bislang älteste Frau der Welt, die stolze Französin Jeanne Calment, die von 1875 bis 1997 lebte, schmiss mit 119 die Gauloises weg, weil sie sie nicht mehr sehen und damit nicht mehr ohne Hilfe anzünden konnte.
Das Geld, das Wissenschaftler für die Obduktion meines verhutzelten Körpers im Jahr 2092 zahlen müssen, reicht für eine vierwöchige Marsreise meiner Kinder, Kindeskinder und Kindeskindeskinder, und was man bei der Autopsie herausfinden wird, lässt den Asthmasprayhersteller Allergospasmin kurzzeitig zum erfolgreichsten Pharmaunternehmen der Welt aufsteigen. Außerdem werde ich ab 2072 eh sorglos von dem Guinness leben, das mir mein Sponsor wöchentlich in großen Fässern vor mein Altersheim karrt, alljährlich begleitet von einer Neuauflage des gleichnamigen Buches, dessen einzige Original-Papier-Print-Ausgabe ich mir von einem jungen Pfleger vorlesen lasse.
Allerdings hoffe ich, dass man mich nicht der Betrügerei bezichtigen wird, denn die Geschichte der Supercentenarians steckt voller Lügen: Immer wieder haben faltige Fischer aus Rom oder gramgebeugte Busfahrer aus Japan behauptet, sie wären wahlweise Briganten im Königreich Italien gewesen oder hätten im Widerstand der Samurai gegen die Abschaffung ihres Standes während der Meiji-Zeit 1877 gekämpft, und dann kommt heraus, dass sie nur süße 90 sind und einfach nur unglaublich ungesund gelebt und nie Feuchtigkeitscreme benutzt haben.
Kurz bevor ich im Jahr 2092 dann endlich vom Harfenspiel geweckt werde, checke ich noch schnell ab, welche mitarbeiter- oder klimaunfreundlichen Lebensmittelkonzerne den Ruin verdienen, damit die Pathologen später in ihrem – wegen des Medieninteresses öffentlich einsehbaren – Bericht schreiben: „Im Magen befanden sich Reste von Nestlé-Schokolade, Rüdesheimer Glycerin-Wein und Nusspli-Nussnougatcreme mit Gensoja. Keine weiteren Anzeichen auf Ursachen, die den Tod der 123-Jährigen herbeigeführt haben könnten.“
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