piwik no script img

Jahrestag der Anschläge in Norwegen„Man spürt eine angestaute Aggression“

Ein Jahr nach den Anschlägen von Utøya gibt es neue rassistische Debatten in Norwegen. Es fehle eine Diskussion über die Motive des Attentäters, sagt die Politikerin Rebekka Borsch.

Insel des Terrors: Utøya am Tag vor dem Anschlag. Bild: dpa
Interview von Barbara Oertel

taz: Frau Borsch, am 22. Juli jähren sich die Anschläge in Oslo und auf Utøya zum ersten Mal. Was hat sich seitdem in der norwegischen Gesellschaft verändert?

Rebekka Borsch: An der Art und Weise, wie die Leute ihr Leben leben, hat sich fundamental nichts geändert. Aber es wird deutlich, dass die Menschen mit diesem Ereignis längst nicht fertig sind.

Woran machen Sie das fest?

Das Bild ist sehr gemischt. Es ist jetzt eine gewisse Angespanntheit, eine Art angestaute Aggression zu spüren. Der Osloer Bürgermeister hat vor Kurzem in einem längeren Interview gesagt, es müsse erlaubt sein, öffentlich zu sagen, dass man Breivik hasst. Gleichzeitig haben wir hier in den letzten zehn Tagen eine sehr hitzige Debatte über 200 Roma und Sinti, die in Oslo in einem Camp wohnen.

Wie reagieren die Norweger darauf?

privat
Im Interview: REBEKKA BORSCH

35, aus Olpe, Politikwissenschaftlerin und Journalistin, lebt seit sieben Jahren in Norwegen und ist seit Februar 2011 norwegische Staatsbürgerin. Für das dortige Umweltamt koordiniert sie die Zusammenarbeit mit der EU. Seit 2007 ist sie bei der sozialliberalen Partei Venetre aktiv, für die sie auch bei den Parlamentswahlen 2013 antreten wird.

Das hat eine sehr hässliche Debatte im Internet ausgelöst, wo die Leute mit rassistischen Ausfällen gekommen sind. Ich und auch viele andere Politiker waren fassungslos und haben gesagt: Das kann doch nicht wahr sein. Gerade jetzt, wo der Jahrestag ansteht und wir uns im vergangenen Jahr versprochen haben, zusammenzustehen, für mehr Offenheit und weniger Rassismus und Schubladendenken einzutreten. Und genau jetzt bricht das alles hervor.

Vor Beginn des Prozesses fürchtete man, dass Breivik Raum in einem Forum gegeben werde, und man fragte sich, ob das den Opfern zuzumuten sei. Wie ist Ihre Bilanz?

Es war sehr wichtig, dass der Prozess so breit durchgeführt wurde. Viele haben zwar sehr gelitten, aber man musste das so durchziehen, um der Sache gerecht zu werden. Dabei war sehr interessant, zu beobachten, wie sich ein Rechtsstaat daran abarbeitet, so eine Tat sachlich und neutral zu behandeln. Denn das ist ja fast nicht möglich. Der Streit darüber, ob Breivik unzurechnungsfähig und welches Gutachten das richtige ist, hat meiner Meinung nach zu viel Platz eingenommen. Viele haben ihre Aggressionen an den Psychiatern ausgelassen, und dadurch ist die Hauptperson in den Hintergrund gerückt.

Was ist zu kurz gekommen?

Es fehlt leider immer noch eine grundsätzlichere Debatte über Breiviks politische Motive und darüber, wie viele andere Menschen diese Gedanken stützen.

Derzeit wird diskutiert, die Terrorgesetze zu verschärfen …

Utøya, 22.07.2011

Der Anschlag: Die Meldung über Anschläge in Oslo und auf Utøya lösen weltweit Entsetzen aus. 77 Menschen kamen dabei ums Leben.

Erste Reaktionen: In den ersten Berichten, als noch niemand etwas über den Täter wusste, war von Islamisten die Rede, die Europa zur Schaubühne einer schrecklichen Tat gemacht haben sollen.

Die Folgen: Auf die erste antiislamistische Empörung folgt die Ernüchterung durch die Berichte aus Norwegen über den wahren Tathergang und den Täter: ein Norweger, der kaltblütig im Osloer Regierungsviertel eine selbst gebastelte Bombe zündete und auf der Insel Utøya jugendliche Teilnehmer an einer sommerlichen Veranstaltung der Arbeiterpartei mit einem Gewehr niedergemäht hatte.

Der Prozess: Der Täter Anders Breivik steht in Olso vor Gericht. Das Urteil soll am 24. August fallen.

Das Gedenken: Mit Zeremonien im ganzen Land und Kranzniederlegungen an den Anschlagsorten wollen die Norweger am Sonntag an die 77 Toten erinnern. (wt)

Die Regierung hat eine entsprechende Liste vorgelegt. Einige Vorschläge bedeuten ganz klar eine Einschränkung persönlicher Rechte, eine verstärkte Überwachung, dass man Leute festnehmen und bestrafen kann, bevor sie eine strafbare Handlung begangen haben.

Was halten Sie davon?

Kritiker, zu denen auch meine Partei gehört, monieren, dass man sich da in eine Grauzone begibt. Wir warnen davor, dass hier Gesetze durchgedrückt werden sollen, die den Sinn haben sollen, Terroristen leichter aufzuspüren, aber von der Polizei überhaupt nicht praktisch anwendbar sind. Es ist für den Rechtsstaat schwierig, Einzelpersonen auf der Grundlage einer eher dünnen Beweislage umfassend zu überwachen. Für mich und meine Partei wirkt das wie ein Art Symbolpolitik. Ich glaube nicht, dass das alles so durchkommt. Vieles wird fallen gelassen werden.

Nach einem Absturz in den Umfragen legen die Rechtspopulisten jetzt wieder zu. Wie erklären Sie das?

Im vergangenen Jahr haben wohl viele begriffen, dass diese Partei den Bodensatz für eine Gesinnung bietet, wo solche Menschen wie Breivik gedeihen können. Jetzt hat sich das wieder relativiert. Viele sagen ganz offen, dass sie gegen Einwanderer sind. Dabei ist es geradezu unglaublich, wie die Fortschrittspartei diese Debatte über die Roma für sich ausnutzt.

In dieser Woche hat die Parteichefin gesagt, man solle diese Leute einfach deportieren. Trotzdem befürchte ich, das die Fortschrittspartei bei den Wahlen im nächsten Jahr wieder mehr Stimmern einsammeln wird, als man noch vor einem halben Jahr gelaubt hätte.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • MW
    Menschenrechte weltweit

    Die "politisch Inkorrekten" sind wieder am Start ... wer sich fragt, was Breivik möglich gemacht hat - der sollte hier die Kommentare aufmerksam lesen ...

     

    @ D. J.: Es gibt keinen christlichen Terrorismus? Mal was von Nordirland gehört?

  • Z
    Zustimmung

    den Eindruck habe ich auch, ABBs politische Ansichten kamen zu kurz.

    Für Zurechnungsfähig halte ich ihn schon,

    für gestört und gefährlich aber natürlich auch.

    Und das wird man einschätzen müssen, denn von dem Rückfallrisiko wird abhängig sein ob er nach Verbüssen der Strafe rauskommt.

    Das wird man nur erreichen können indem man sich mit ihm auseinandersetzt.

    Dafür bietet er seine Erklärungen an,

    also wird man da nachhaken müssen.

     

    Sonst könnte man ihm wahlweise zum Ende seiner Haftzeit seine Lieblingsmusik vorspielen,

    und wenn ihn dann unkontrollierbare Gefühlsausbrüche überkommen bis nächstes Jahr warten.

  • O
    olaf

    Die Rebekka Borsch könnte bei den deutschen Grünen eine große Karriere machen, aber ich denke, die Norweger sind nicht so dumm.

  • D
    D.J.

    @womue

     

    "als bekennender Christ hätte er ..."

     

    Ja, diesen Käse muss man immer und immer wieder lesen; gerade interessierte Kreise (Erdogan) wiederholen ihn gern, um einen christlichen Terrorismus zu konstruieren. Wenn Sie Breiviks Machwerk durchlesen - dort macht er klar, dass für ihn Christentum nur eine kulturelle Chiffre ist und er sich nicht als gläubig definiert.

  • D
    D.J.

    Niederlassungsfreiheit gilt in der EU nur für Arbeitsmigration. Wenn darauf hinzuweisen Rassimus ist, meinetwegen - der Begriff kommt in der taz ohnehin in jeder zweiten Zeile vor (gäähhhn).

  • W
    womue

    Das ist es ja: Kann denn ein für psychisch krank befundener Straftäter um seine politische Motive hinterfragt werden? Das kann man sehr wohl auch auf historische Dimensionen ausweiten. Die verschärften Präventivbefugnisse staatlicher Behörden, wie sie etwa in D gehandhabt werden, hätten aber einen isoiert auf einer ländlichen Farm lebenden Diplomatensohn wie Breivik nicht gestoppt. Im Gegenteil, als bekennender Christ hätte er bei gefährlichen Unterstellungen jederzeit einen besonderen Bonus genossen. Allerdings hätte man hier nach der Tat ein Dutzend flüchtige Bekannte des Täters verhaftet und so lange bearbeitet und bedroht, bis man genügend Material für eine "Terrorgruppe" beisammen hat. Es zeigt sich hier wieder, wie eine radikale Organisation oder auch nur Strömung einen Staat systematisch totalitärer macht, auch wenn sie nie selber an die Macht kommt. Darüber sollte man hier in D mal nachdenken.

  • K
    Karl

    Wie wärs dabei denn mit dem Versuch einer Sachdebatte?

     

    Solchen Schwachsinn wie "Rasssimus" braucht niemand zumal es sich um wissenschaftlich längst widerlegte NS-Diktion handelt.

     

    Es ist zweckmäßig Probleme auch halbwegs korrekt anzusprechen, und sei es als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit!

     

    Glück auf!

     

    Karl

  • U
    Unbequemer

    "Es fehlt leider immer noch eine grundsätzlichere Debatte über Breiviks politische Motive und darüber, wie viele andere Menschen diese Gedanken stützen."

     

    Oh - diese Motive hat doch Breivik ausführlich erklärt. Er fühlt sich fremd im eigenen Land. Wie wärs darüber zu debattieren, daß eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch massive Einwanderung seine Grenzen hat. Diese Einwanderung verändert die Gesellschaft. Sind diese Veränderungen un dem Ausmaß gewünscht, oder nicht. Diskussionen, die politisch korrekte Menschen ablehnen. Aber wer nicht darüber reden will, der redet an Ursachen vorbei.