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Premiere im SchulwesenWaldorfschule unter staatlichem Dach

In Hamburg-Wilhelmsburg wollen eine Waldorf-Initiative und eine staatliche Grundschule fusionieren.

Wilhelmsburg wandelt sich. Die Waldorfschule soll verhindern, dass alte und neue Bewohner auseinander driften. Bild: Mauricio Bustamante

HAMBURG taz | Im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg ereignete sich in diesen Tagen eine kleine bildungspolitische Sensation. Mit 21 zu acht Stimmen votierte das Kollegium der Grundschule Fährstraße dafür, einen Schulversuch mit dem „Verein für Interkulturelle Waldorfpädagogik“ zu wagen. Wenn alles klappt, werden die Klassen dort ab Sommer 2014 von je einem Waldorflehrer und einem städtischen Lehrer gemeinsam unterrichtet.

Es soll eine interkulturelle Schule sein, die sich gezielt auch auf Kinder von Migranten einstellt. „Es gibt viele bei den Waldorfschulen, die wollen raus aus den bildungsbürgerlichen Stadtteilen“, berichtet Christiane Leiste vom Waldorf-Verein. Deshalb wollten Lehrer und Eltern bewusst in Wilhelmsburg eine Waldorfschule gründen, nach dem Vorbild der „Interkulturellen Waldorfschule Mannheim“.

Meist ist die Schülerschaft an Rudolf-Steiner-Schulen überwiegend deutsch. In Mannheim dagegen sind es Kinder aus über 30 Nationen und ein international gemischtes Kollegium. Es komme den Einwandererkindern sehr entgegen, dass es weder Noten noch Sitzenbleiben gebe, berichtet Geschäftsführerin Susanne Piwecki. „Die Unterschiede in der Leistung gleichen sich über die Jahre aus.“

Waldorf-Pädagogik

Waldorf-Pädagogik beruht auf den Grundsätzen der von Rudolf Steiner (1861-1925) entwickelten Anthroposophie und wurde erstmals 1920 in Stuttgart in einer Schule für die Arbeiterkinder einer Zigarettenfabrik entwickelt.

Wichtig ist der Klassenlehrer als Bezugsperson. Es gibt keine Noten, kein Sitzenbleiben.

Epochen: Hauptfächer wie Deutsch, Mathe oder Biologie werden drei bis vier Wochen intensiv behandelt und erst nach längeren Pausen wieder aufgegriffen.

Kunst, Musik und Theater spielen eine große Rolle.

Kinder sollen vom Tun her die Dinge verstehen. Sie erstellen mit den Epochenheften ihre eigenen Schulbücher. Ab Klasse 5 gibt es Werkunterricht

Neben Sport gibt es Eurythmie, eine Art seelisches Turnen.

Die Schule geht bis Klasse 12 und endet mit Realschulabschluss. In Klasse 13 kann das Abitur folgen.

Im Herbst 2011 beantragte der „Verein für Interkulturelle Waldorfpädagogik“ bei der Hamburger Schulbehörde die Gründung einer Privatschule in Wilhelmsburg. Doch das stieß bei Schulsenator Ties Rabe (SPD) auf wenig Begeisterung. Er hatte die Sorge, dass sich die soziale Spaltung weiter verschärft, und all jene Eltern aus bildungsbürgerlichen Milieus, die inzwischen in den einstigen Arbeiterstadtteil gezogen sind, ihre Kinder auf diese Schule geben. „Das hat mich überzeugt. Das ist nicht das, was wir wollen“, sagt Leiste, die selbst erfahrene Waldorflehrerin ist.

Doch statt einer Absage kam die Einladung, es zusammen zu versuchen. So hatte die Stadt schon 2008 die Gründung einer kirchlichen Privatschule in der Nähe abgewendet. Die damalige Elterninitiative ist jetzt Kooperationspartner der „Elbinselschule“.

„Wir waren sehr überrascht über dieses Angebot“, berichtet Leiste. Nach mehrmonatigen Konzeptgesprächen mit der Schulbehörde gab es nun eine gemeinsame Tagung mit den Lehrern der Fährstraße. Die Überschneidung der Wünsche, wie man Schule gern gestalten möchte, sei groß, berichtet Leiste. Beide Seiten wollten keine Noten, keine Lernstandserhebungen und mehr künstlerisch mit den Kindern arbeiten. Und sie würden die Kinder gern bis Klasse 8 oder länger behalten.

All dies sind klassische Bestandteile der Waldorfpädagogik, neben den bekannten Elementen wie Eurythmie oder Epochenunterricht (siehe Kasten). „Das wird keine Eins-zu-eins-Waldorfschule“, sagt Leiste. „Kein Lehrer wird gezwungen, Eurythmie zu machen“. Aber es gebe ein paar Grundbedingungen. Dazu zähle, die Kinder nicht nach der 4. Klasse zu trennen. „Unser Schulkonzept geht bis Klasse 12.“

In dieser Frage gibt es noch Dissens mit der Schulbehörde. „Wir wissen, dass die Waldorfinitiative gern Stadtteilschule werden würde“, sagt Sprecher Peter Albrecht. Ein solcher Ausbau zur weiterführenden Schule sei derzeit jedoch „nicht geplant und nicht zugesagt“. Sie sei aber Gegenstand der kommenden Gespräche. Man müsse auch an die „normalen“ Eltern denken, die Noten für ihr Kind wünschten oder es nach der 4. Klasse „woanders hingeben wollen“.

Auch die Frage pädagogischer Grenzlinien werde noch geklärt. „Es geht nicht darum, die Ideologie von Rudolf Steiner in staatliche Unterrichtspraxis zu überführen“, sagt Albrecht. Man wolle Elemente von Waldorf-Pädagogik integrieren, die „allseits akzeptiert sind“. Als Beispiel nennt er die Hamburger Albert-Schweitzer-Schule, die vor 62 Jahren mit einer „starken Waldorfausprägung“ an den Start ging und heute nur noch 20 Prozent Waldorflehrer hat.

Auch Christiane Leiste versichert, es gehe nicht darum, anthroposophische Inhalte zu verbreiten. „Es geht um praktische Pädagogik.“ Esoterik habe auch an keiner Waldorfschule im Unterricht etwas zu suchen. „Wenn das so ist, läuft dort etwas falsch.“

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5 Kommentare

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  • RS
    Rolf Speckner

    Bemerkenswert sind die Beweggründe zur Kooperation. Waldorflehrer und Staatsschullehrer werden menschliches und pädagogisches Interesse aneinander haben. Bei ihnen stehen offenbar die Interessen des Kindes im Vordergrund. Was hier von der Schulverwaltung zu hören ist, hört sich allerdings ganz anders an. Vermischt die taz Bericht und Kommentar? Oder wagt es eine Behörde wirklich, auszusprechen, sie wolle eine derartige Initiative ausbremsen? Wie steht es denn dann mit der Freiheit der Erziehung, mit der Selbstverantwortung der Eltern, etc... Möchte die Schgulbehörde statt Freiheit im Erziehungswesen lieber vernünftigen Zwang?

    Ich bewundere die Waldorfpädagogen, die sich auf einen solchen Versuch einlassen - um der Kinder Willen.

    Die sehr gekonnt formulierte, aber in der Sache deutlich einseitige Stellungnahme von "malayalam", die ihre Identität aus ihr bewußten Gründen nicht preisgibt, ist überzogen. Wüßte man, wer sich hinter dem Namen verbirgt und welche Schule er besucht hat (oder haben will), könnte man den Behauptungen nachgehen. So bleiben sie frei im Raume schwebend hängen.

    Behauptungen über "die" Waldorfschulen sind genauso verkehrt wie solche über "die" Staatsschulen. Jede Waldorfschule hat ein eigenes Gepräge. Als Vater eines Waldorfschülers möchte ich hinzufügen: Jede Klasse, jeder Jahrgang haben ihr eigenes Gepräge. Alles hängt von den einzelnen Lehrern ab - in der Waldorfschule wie in der staatlichen Regelschule.

    Ich wünsche dem Schulversuch in Wilhelmsburg viel Glück und kritische aber in Freundschaft kritische Schuleltern! Rolf Speckner

  • M
    malayalam

    Man muss sich den Satz von Frau Piwecki einmal auf der Zunge zergehen lassen: „Die Unterschiede in der Leistung gleichen sich über die Jahre aus.“ De facto bedeutet dies nichts anderes, als dass leistungsstarke Kinder konsequent nicht gefördert werden. Aber auch die Leistungsschwachen werden nach meiner Erfahrung, denn ich war selbst Waldorfschülerin, überwiegend sich selbst überlassen.

     

    Insofern als mit Leistung an der Waldorfschule sowieso kein Blumentopf zu gewinnen ist, ist es natürlich leicht, Unterschiede in den Fähigkeiten zu negieren. Die Hürden sind so niedrig, wie Frau Piweckis Satz es nahelegt, der Unterricht oft unsystematisch, solide Grundlagen werden nicht gelegt („exemplarisches Lernen“). Begabte Schüler können dies kompensieren, aber sie verschwenden ihre Fähigkeiten, die eigentlich gezielter Förderung bedürften, damit aus ihnen hohe Leistungen entstehen könnten. Gezielte Förderung wird aber auch den schwachen Schülern vorenthalten, die in der unausgelesenen Klasse dauerhaft überfordert sind. Da es weder Noten noch Leistungsstandserhebungen gibt, fallen Lücken lange Zeit nicht auf. Dies verhindert, diese rechtzeitig zu schließen, so dass nicht wenige Kinder im Laufe ihrer Schulzeit leistungsmäßig abgehängt werden.

     

    Dass Waldorfschulen dennoch einen guten Ruf haben, liegt daran, dass sie dem Mittelmaß einigermaßen gerecht werden, denjenigen Schülern also, die weder besondere Begabungen noch besondere Schwächen aufweisen, dafür aber den passenden familiären Hintergrund.

     

    Denn das Geheimnis des Erfolgs von Waldorfschulen ist die bildungsbürgerliche Elternklientel. Ein Großteil der Schülerschaft entstammt Familien von Akademikern oder Selbständigen. Dies erklärt auch die sensationellen Abiturientenquoten an Waldorfschulen, da diese Familien über die entsprechenden Ressourcen verfügen, um im Bedarfsfall das an fachlicher und/oder motivationaler Unterstützung zu leisten, was die Schule versäumt.

     

    Positiv an der Waldorfschule finde ich, dass Spätentwickler so viel Zeit bekommen, wie sie brauchen, und nicht bereits am Anfang ihrer Schulkarriere abgestempelt und demotiviert werden. Ebenso dass Schüler, wenn sie durch eine Krise gehen, nicht noch durch schlechte Noten und drohendes Sitzenbleiben abgestraft werden, sondern sich in Ruhe wieder fangen können.

    Ich bin sehr dafür, Druck aus dem Schulsystem rauszunehmen, vor allem in den ersten Jahren. Und natürlich ist nichts dagegen zu sagen, vermehrt künstlerisch mit den Kindern zu arbeiten. Die Waldorfschule schüttet jedoch das Kind mit dem Bade aus: Gleichgültigkeit gegenüber Leistung bis hin zur offenen Leistungsfeindlichkeit sind nicht die gesunde Alternative zum Leistungsdruck, sondern das andere Extrem.

     

    Selbst Finnland und Schweden, die ja immer als leuchtendes Vorbild dargestellt werden, führen ihr Gesamtschulsystem nur bis zur 9. Klasse und teilen es dann nach Leistung und Neigung in verschiedene Profile auf. Schüler aller Begabungsrichtungen dagegen über 12 Jahre aneinanderzuketten und dennoch jedem gerecht zu werden, ist ein Wunder, das noch keine Pädagogik zustandegebracht hat – auch die Waldorfschulen nicht!

     

    Dies ist bereits das 3. Mal, dass ich diesen Kommentar poste. Liebe taz-Redaktion, ich bin ernüchtert, dass Statements, die nicht ins Weltbild passen, der Zensur zum Opfer fallen – zumal ich in meinem Kommentar eben nicht nur meine Meinung wiedergebe, sondern aus eigener langjähriger Erfahrung spreche. Ideologie siegt über Realität – schade.

    Für mich ist die taz hiermit gestorben.

  • P
    pablo

    Da hoffen wir mal das die Grundschüler dann auch lernen wie ihr Name getanzt wird:)

  • W
    Wertig

    Waldorfschule...

    Die kriegen demnächst mehr Aufmerksamkeit in den Medien.

    Nur der Auslöser wird viele schockieren. Aber kranke Menschen gibt es halt überall...

    Mal schauen, wann es in den Medien ankommt.

  • B
    Brandt

    Es ist begrüssenswert, wenn einige Elemente der Waldorfpädagogik übernommen werden.

     

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