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Vernachlässigung in Bad SegebergWichtige Fakten verschwiegen

In Bad Segeberg hat die Polizei einen Jungen eingesperrt in einem Keller gefunden. Das Jugendamt sieht sich als Betrugsopfer. Doch die Behörde hatte wichtige Teile des Sorgerechts.

Keine Idylle: Im Keller dieses Hauses wurde ein gefangener Junge gefunden. Bild: dpa

BAD SEGEBERG taz | Ein dreijähriges Kind stand in seinem eigenen Kot, als Polizisten es im Juni eingesperrt im Keller eines Bad Segeberger Wohnhauses fanden. Nachdem die Staatsanwaltschaft zunächst nur gegen die Eltern ermittelte, liegt ihr nun auch eine Strafanzeige gegen Georg Hoffmann, den Leiter des Kreisjugendamtes vor und weitere nicht genannte Personen.

Es geht um die Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht, wie die Kieler Oberstaatsanwältin Birgit Heß sagt. Ihre Behörde prüfe nun die Akten der Bad Segeberger Polizei. Auch das Landesjugendamt hat sich in den Fall eingeschaltet, es prüft das Verhalten der Kreisverwaltung.

Der Hintergrund: Das Kreisjugendamt hat seit Herbst 2010 für den im Keller entdeckten Jungen und seine vier Geschwister wesentliche Teile des Sorgerechts, unter anderem durfte es entscheiden, wo sich die Kinder aufhalten. Das war das Ergebnis eines Familiengerichtsprozesses, wie aus Informationen des Schleswiger Oberlandesgerichts hervorgeht. Das Amt könne auch entscheiden, ob Kinder wieder in die Obhut der Eltern zurückgingen, müsste diese aber dann streng kontrollieren, erklärt Richterin Christine von Milczewski.

Diese besondere Verantwortung des Kreisjugendamtes verschwieg die Behörde bisher. Die Familie sei „in den letzten Jahren intensiv durch das Kreisjugendamt sowie freie Träger“ betreut worden, schrieb die Behörde in einer Pressemitteilung lediglich. Der Kreisjugendamtschef Hoffmann und seine Vorgesetzte, die Landrätin Jutta Hartwieg (SPD), erklärten am 13. September auch, wie der Junge entdeckt wurde: Durch einen Konflikt der Eltern mit der Vermieterin habe die herbeigerufene Polizei am 17. Juni in einem Keller den Dreijährigen vorgefunden, so die Kreisverwaltung in einer Pressemitteilung. Er wurde mit zwei weiteren Geschwistern „in Obhut genommen“.

Ein Versagen des Jugendamtes und der Familienhelfer konnte Landrätin Hartwieg nicht erkennen. Sie räumte wie Hoffmann ein, dass es das Amt nicht geschafft habe, die Erziehungsfähigkeit der Eltern zu stärken. Der Jugendamtschef sagte weiter: „Wir sind schlicht und ergreifend betrogen worden.“ Bei den angemeldeten Kontrollbesuchen seien die Kinder immer ordentlich angezogen gewesen und hätten keinen verwahrlosten Eindruck gemacht. Aktuelle Fragen der taz zu dem Fall blieben unbeantwortet.

Auch Kommunalpolitiker wurde offenbar nicht vollständig informiert. Kreistagsmitglied Edda Lessing (SPD) berichtet, der Fall sei vor der Sommerpause Thema im Jugendhilfeausschuss gewesen. Dass das Jugendamt bereits seit zwei Jahren die Vormundschaft für das betroffene Kind hatte, „wussten wir nicht“. Erst durch Journalistenrecherche seien nach und nach immer mehr Details bekannt geworden. Für Dienstag ist nun eine Sondersitzung des Hauptausschusses terminiert, der zuständige Jugendhilfeausschuss könne erst am 18. Oktober tagen, weil der Jugendamtsleiter seinen Jahresurlaub von 2011 antreten müsse.

Auch Lessings CDU-Kollege Claus-Peter Dieck wirkt verärgert. Er räumt zwar ein, dass bei ersten Informationen durch die Verwaltung nicht nachgefragt worden sei, verlangt aber Aufklärung. „Schnellstmöglich“ müsse festgestellt werden, ob Derartiges wieder passieren könne.

Kreistagsmitglied Wolfgang Schnabel hat einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. Den hat die Verwaltung „in Gänze“ unter Berufung auf den Datenschutz abgelehnt. Schnabel will die Kommunalaufsicht einschalten.

Für den Segeberger Fall interessiert man sich auch im Kieler Sozialministerium – zu ihm gehört das Landesjugendamt. Derzeit, so Sprecher Christian Kohl, werde aber geprüft, ob es Rechtsverstöße gegeben habe. Laut Kohl „sind Auskünfte vom Kreis angefordert worden“. Über die bisherigen Erkenntnisse habe das Landesjugendamt Mitte der Woche die Staatsanwaltschaft informiert. Das Landesjugendamt sehe „weiterhin Aufklärungsbedarf“. Am Donnerstag wird sich der Sozialausschuss des Landtages in einer Sondersitzung mit dem Fall befassen.

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6 Kommentare

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  • BC
    Bianca. C.

    Ich finde unmöglich das das Amt sich immer angemeldet hatte. So kann man die kinder vorher raus putzen. Und was ich auch niocht verstehe, das man Den Eltern noch die anderen Kinder da gelassen hatte wobei schon die 3 ersten in Obhut genommen wurde.Ich selbst habe 4kinder und mir damals Hilfe vom Jugendamt geholt. Nach fast 2 Jahren konnten wir das beenden weil alles so klappte wie es sein sollte. Und für mich ist das schlimmste das ich diese beiden Personen noch kenne( grrr)!!! Für mich ein totales versagen vom Amt.

  • D
    Doroina

    Na, wenn die Kinder immer "ordentlich angezogen" waren...?? Wie sollen dann "FACHLEUTE" erkennen können, dass sich unter den Kleidern verwahrloste, hilflose und schwer misshandelte Kinder befinden??? Ich meine, wo die doch immer "ordentlich angezogen" waren!!?? (*Zynik-Modus aus*)

  • SW
    S. Weinert

    Für jeden, der - sei es beruflich oder ehrenamtlich - in diesem Bereich tätig ist und derartige Fälle schon mehrfach erleben musste, zeigt sich schnell, dass der Systemfehler in den (mindestens mehrere Tage zuvor) angekündigten Hausbesuchen liegt. Diese extensive Auslegung vermeintlicher Grundrechte der Eltern ist an Zynismus nicht zu überbieten. Ein böser Spruch, der hier oft die Runde macht lautet: "Dann wird jedenfalls mal die Wohnung geputzt..." Wohlgemerkt, es geht nicht um jene Eltern, die sich fürsorglich und aufopfernd um ihre Kinder kümmern, sondern um jene, bei denen gerichtlich eine Überforderung festgestellt ist. Ist es da wirklich eine Hilfe, sie letztlich mit Verantwortung zu überfordern? Das Jugendamt muss das Recht erhalten, jederzeit und nach eigenem Ermessen die Wohnung zu betreten, nur so kann die Sicherheit und das Wohlergehen der Kinder gewährleistet werden. In einem zweiten Schritt müssten dann noch die Planstellen bei den Jugendämtern aufgestockt werden, um dies auch praktisch umsetzen zu können. Oder sollte demnächst der TÜV abgeschafft werden, nur weil sich 99% aller Fahrzeuge in einem guten Zustand befinden?

     

    @ Chris

     

    Die Eltern sind erwachsen, geschäftsfähig gem. BGB und seit der Novellierung des Sozialrechts und der damit einhergehenden (möglichen) Abschaffung der Direktzahlungen der Miete durch das Sozialamt sind sie selbst verantwortlich. Das Amt hat selbst bei Nichtzahlung keine Interventionsmöglichkeit.

  • K
    keldana

    "Bei den angemeldeten Kontrollbesuchen seien die Kinder immer ordentlich angezogen gewesen und hätten keinen verwahrlosten Eindruck gemacht."

     

    Wer findet den Fehler ? Wer scharf überwachen soll kann sich selbstredend nicht Tage vorher immer anmelden. Das sollte doch der Dümmste kapieren. Und wenn das Gesetz es nicht anders zuläßt, muß man daran etwas ändern.

  • C
    Chris

    schon merkwürdig. Das die Eltern keine Miete gezahlt haben war den Ämtern auch bekannt. Obdachlose Kinder scheinen auch nicht sonderlich zu interessieren.

  • TW
    Thomas Wilken

    Die Piratenpartei des Kreises Segeberg begrüßt die Tatsache, dass nun Politiker des Kreistages die Medienberichte zu Anlass nehmen, den Fall Bussardweg aufklären zu wollen.

    Nachdem die Landrätin Fr. Hartwieg und der ihr unterstellte Kreisjugendamtsleiter Hoffmann in der letzten Woche versucht haben, den Fall des im Keller eingesperrten Dreijährigen als Betriebsunfall zu verharmlosen, mehren sich nun die kritischen Stimmen im Kreistag. Für Toni Köppen von der Piratenpartei Segeberg, selber Vater von 2 kleinen Kindern, stellt das Vorgehen der Landrätin und des Jugendamtsleiters das typische Vorgehen dar, wie auch in vergleichbaren Fällen in der Vergangenheit mit solch schweren Verfehlungen der Verwaltung umgegangen wurde und wird. Anstatt lückenlos und transparent die politischen Gremien über den Sachverhalt aufzuklären, wird nur Scheibchenweise das zugegeben, was die Presse erfreulicherweise recherchiert.

     

    Für Toni Köppen stellen sich aber weitere Fragen:

     

    Wie viele vergleichbare oder ähnliche Fälle sind dem Kreisjugendamt bekannt und was wird das Jugendamt an der Betreuung solcher Problemfamilien zum Wohle des Kindes ändern?

    Welchem Monitoring unterliegen die freien Träger der Jugendhilfe durch staatliche Stellen?

    Trifft die Behauptung zu, dass finanzielle Aspekte für die Betreuung durch freie Träger sprechen?

    Hat die Landrätin eine interne Ermittlungsgruppe eingesetzt, die gerichtsfest den Fall Bussardweg aufklärt und wann ist mit Ergebnissen zu rechnen?

    Sieht der Kreistag Handlungsbedarf, die derzeitige Familienbetreuung neu zu regeln?

    Wer übernimmt, so Toni Köppen in der Pressemitteilung weiter, sowohl die fachliche als auch die politische Verantwortung, damit zukünftig solche Leiden anderen Kindern erspart bleiben.

     

    Nachdem die Verantwortlichen glauben, in dem Fall alles richtig gemacht zu haben, erhofft sich die Piratenpartei Segeberg von den nun staatsanwaltlichen Ermittlungen weitere objektive Sachverhaltsklärung und eine juristische Bewertung. Von deren Ausgang ist für die Piraten abhängig, ob und welche personellen Konsequenzen zu ziehen sind.