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FilmHier fliegen die Ideen

Erst vier Jahre lebt die Animationsfilmemacherin Ebele Okoye in Berlin - und schon hat sie einen Heimatfilm über das Tempelhofer Feld gemacht.

Riesendrachen über dem Tempelhofer Feld. Bild: DPA

Am Anfang sieht man eine Hand, die langsam die Wörter „Berlin“ und „Tempelhof“ auf einen Bogen Briefpapier schreibt. Beim Datum hält sie inne, die Hand – aber bis zur dritten Ziffer bei der Jahreszahl schafft sie es noch. Wir befinden uns offenbar jenseits des Jahres 2020. Schnitt.

Die alte Dame, zu der die Hand gehört, dreht sich in ihrem Rollstuhl zum Fenster. Sie greift bedächtig zum Fernglas. Ihr Blick geht aufs Tempelhofer Feld, wie es in zehn Jahren aussehen könnte: mit hohen Kletterfelsen, von denen sich mutige Objektspringer à la Felix Baumgartner stürzen. Die Jumper tragen Wingsuits mit viel Stoff zwischen den Armen und Beinen. Sie schweben herum wie Krähen. Die Art, wie sie gezeichnet sind, ein wenig grob, ein wenig schemenhaft, hat etwas Bedrohliches, ja Beklemmendes.

Eine alte Stimme sagt aus dem Off: „Ich habe die Namen der großen Vögel vergessen.“ Diese Zeile stammt aus dem Gedicht der Lyrikerin und Wahlberlinerin Ulrike Almut Sandig. Es trägt den Titel „meine heimat“. Ebele Okoye, eine Animationsfilmemacherin und Malerin, die 2000 aus Nigeria nach Deutschland kam, hat aus Sandigs Gedicht die Geschichte einer Frau gemacht, die das Tempelhofer Feld noch kannte, bevor es 1923 ein Flughafen wurde.

Sie hat es, so Ebele Okoyes Interpretation, noch als Ackerland gesehen, als das es wirklich genutzt wurde, bevor es auch Exerzierplatz und Pferderennbahn wurde. So kam der Film zustande: Wie 32 weitere Filmemacher und Filmemacherinnen aus aller Welt ist auch Ebele Okoye dem Aufruf der literaturWERKstatt Berlin gefolgt, für das Zebra Poetry Film Festival dieses Gedicht zu interpretieren. Ihr Film ist einer der 13 Poesiefilme, die auf dem Festival gezeigt werden.

„Ich hatte erst gar nicht vor, diesem Aufruf zu folgen und schon wieder da mitzumachen“, sagt Ebele Okoye, denn im letzten Jahr gewann bereits der von ihr mitgeschriebene und animierte Poesiefilm „Anna Blume“ nach dem berühmten Gedicht von Kurt Schwitters den ersten Preis. „Aber ich war einfach schon immer Fan von diesem Tempelhofer Feld“, sagt sie und schlingt laut lachend die Arme um sich, denn der Wind weht heute, an diesem rauen Herbsttag, heftig auf dem weiten Platz, auf dem wir uns verabredet haben.

Die Bilder dieses Ortes, sie drängten sich einfach auf, berichtet die Filmemacherin, während wir wacker übers Feld stapfen. Für sie ist es der großartigste Ort in Berlin. Es ist der Ort, der Berlin zu der Stadt macht, in der sie zum ersten Mal ankam in Deutschland, in der sie sich zum ersten Mal zu Hause fühlte. 2008 kam sie hierher, nach acht Jahren Köln und Düsseldorf, und sofort war sie Feuer und Flamme. Berlin ist so offen, so kreativ, findet sie, eine echte Weltstadt, die es mit New York aufnehmen kann.

„Ich habe jetzt zwei Heimaten“, wird sie später im Café sagen, wo wir uns mit einem Kaffee aufwärmen. „Ich kann jetzt aus zwei Heimaten Geschichten schöpfen.“

Warum aber ausgerechnet das Tempelhofer Feld, dieser zugige Ort, an dem es keine Bäume gibt, im Sommer zu wenig Schatten, im Winter zu wenig Windfang? Warum nicht ein Ort, an dem es ein wenig gemütlicher ist, so gemütlich wie dieses Café?

„Ich weiß nicht“, sagt Ebele Okoye. „Ich habe es mir nicht ausgesucht“, fügt sie an, erklärt aber dann doch etwas sachlicher: Es gibt eben in keiner anderen Stadt einen Ort wie diesen, einen Möglichkeitsraum, an dem die Gedanken, die Assoziationen, dermaßen frei fliegen können.

Bilder aus der Erinnerung

Im Film werden die Szenen der Männer in Wingsuits gegen blitzartig aufscheinende Bilder von klapprigen Holzscheunen und Feldern geschnitten – Bilder, die offenbar aus der Erinnerung der alten Erzählerin stammen, denn gleich darauf sieht man sie als junges Mädchen mit großen, feuchten Augen, wie sie sich vor einer dieser Scheune über einen toten Vogel beugt, der aus dem Nest gefallen ist. Eine alte, anrührend zittrige Stimme sagt aus dem Off: „Jeden Juni fällt Brut vom First einer Scheune, die jetzt leersteht.“

„Ich kann mich mit dieser Frau identifizieren“, erklärt Ebele Okoye, „auch wenn ich nicht in Berlin aufgewachsen bin.“ Mit einem breiten Grinsen holt sie aus: In Nigeria war sie das letzte von acht Kindern. Ihre Cousinen waren bis zu 20 Jahre älter als sie. Ihre Lieblingstante wurde 104 Jahre alt. Als die alte Dame ihr erstes Radio sah, dachte sie, es säßen winzige Menschlein darin, die zu ihr sprechen. „Alte Leute haben manchmal etwas sehr Kindliches“, sagt Ebele Okoye heute. „Sie reimen sich Geschichten auf eine ähnliche Art zusammen wie Kinder. Sie gehen dahin zurück, woher sie gekommen sind, und darauf müssen sie sich vorbereiten.“

Wie aber kam sie ausgerechnet zum Animationsfilm, die als jüngstes Kind allein mit der Mutter auf einem Dorf aufwuchs – ohne Fernseher, ohne allzu viele Bücher?

„Meine Brüder schickten mir viele Comics, vor allem ’Charlie Brown‘ “, erzählt Ebele Okoye. Mit neun sah sie ihren ersten Animationsfilm, „Tom und Jerry“. „Ich flippte total aus“, lacht sie auf und schlägt sich dabei fast auf die Schenkel. Und erzählt dann von einer Art Faschingsumzug in ihrem Dorf, von den wilden Masken, die sie sehr beeindruckten. „Ich war so aufgeregt, dass ich keine Worte fand, als mich meine Eltern danach fragten“, sagt sie. „Also malte ich auf, was ich gesehen hatte. Mir war gar nicht bewusst, dass ich mein erstes Storyboard zu einem Film entworfen hatte.“

Ebele Okoye wollte immer Animationsfilme machen, das wusste sie schon als Kind. In Nigeria gibt es zwar eine riesige Filmindustrie – Schätzungen zufolge werden etwa 400 bis 2.000 Filme pro Jahr in Nigeria produziert, damit ist Nigeria inzwischen die zweitgrößte Filmnation der Welt nach Indien und vor den USA. Allerdings: Nollywood-Filme werden heute in nur wenigen Tagen gedreht und kommen mit einem durchschnittlichen Budget von gerade mal etwa 10.000 US-Dollar inklusive Gehälter und Gagen aus. Es ist also kein Wunder, dass bislang in einem ungeduldigen Filmland wie Nigeria der aufwendige und zeitraubende Animationsfilm wenig Chancen hat.

Jedenfalls konnte Ebele Okoye in Nigeria nur Grafikdesign studieren. Erst als sie 2000 nach Deutschland kam, 2003 an der Internationalen Filmschule Köln zu studieren begann und Paten des Trickfilms wie Harald Siepermann („Mulan“, „Roger Rabbit“) oder Jimmy Murakami („Weihnachtsmärchen“) über die Schulter sehen durfte, da konnte sie endlich tun, was sie schon immer wollte. Sie lernte, wie man Bildern das Laufen beibringt.

Ebele Okoye ist eine Frau, die gern zwischen zwei Welten lebt, die es nicht als Widerspruch empfindet, zwei Heimaten zu haben, sondern als Bereicherung. Deshalb realisiert sie gerade für einen großen Fernsehsender einen Trickfilm, der auf einem afrikanischen Märchen beruht. Deshalb baut sie auch gerade mit einem ihrer Brüder in Nigeria ein Trickfilmstudio auf – im nächsten Frühjahr soll es dort die ersten Kurse geben. Sie will nicht nur für das bewundert werden, sagt sie, was sie macht. Sie will ihr Wissen auch weitergeben.

Deshalb aber hat sie es sich auch mit größter Selbstverständlichkeit zugetraut, ein Heimatgedicht zu interpretieren – und daraus einen Berliner Heimatfilm zu machen. Es ist für sie ganz natürlich, dass man dort, wo man sich zu Hause fühlt, beheimatet ist. Und dass dort auch die Bilder anfangen zu fliegen.

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